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„Für ein Butterbrot“?

Was haben Paula Modersohn-Becker, Pablo Picasso und Vincent van Gogh gemeinsam? Sie alle sammelten Werke von Honoré Daumier. Kuratorin Astrid Reuter über Sammler und das Sammeln – zu Lebzeiten des Künstlers und heute.

Astrid Reuter — 2. April 2024

Für Paula Modersohn-Becker gab es während ihrer Aufenthalte in Paris viel zu entdecken. Das Stöbern bei den zahlreichen Grafikhändlern der Stadt bereitete ihr offenbar großes Vergnügen. Unter anderem fand sie dabei Lithografien Honoré Daumiers, die sie ihrem Mann im Februar 1905 zum Geburtstag nach Worpswede schickte. Das Schaffen aus dem Moment heraus, oft im kleinen Format, hatte Modersohn-Becker zwei Jahre zuvor als ein spezifisches Charakteristikum französischer Kunst beschrieben und Edgar Degas und Honoré Daumier als Beispiele dafür genannt. Von Daumier zeigte sie sich schon 1901 begeistert, als sie seine Werke in der Berliner Galerie von Paul Cassirer sah. Der Kunsthändler widmete dem französischen Künstler und Karikaturisten in diesem Jahr eine erste Ausstellung mit Gemälden, eine zweite mit seinen Lithografien folgte im Jahr darauf. 

Honoré Daumier, Ein fantasierender Maler, 1865, © Privatsammlung

Daumier war nun auch in Deutschland in aller Munde. Zu den leidenschaftlichen Daumier-Sammlern in Berlin gehörte Max Liebermann, der den französischen Kollegen als „ungeheuer“ feierte. Er interessierte sich vermutlich weniger für die politische Sprengkraft seiner Werke als für deren künstlerische Qualitäten: den pulsierenden Strich, die Dynamik und Freiheit seiner Formen sowie die Ausdruckskraft des Helldunkel. Liebermanns groß angelegte Daumier-Sammlung umfasste etwa 3.000 Lithografien, 14 Zeichnungen und ein Gemälde.

Flanieren, Entdecken, Beurteilen

Daumier selbst machte in seinen Darstellungen wiederholt die Freude der Sammler am Entdecken, am Diskutieren und Beurteilen von Kunstwerken zum Thema. Er zeigt uns die Galeriebesucher und ihre Irritation angesichts der ausgestellten Werke, er schildert das Sprechen und abwägende Urteilen ebenso wie den Genuss eines Werkes und er kreiert den Typus des Kunstflaneurs, der in den Pariser Galerien auf Entdeckungsreise geht. Seine vielfach komischen Darstellungen reflektieren den Kunstbetrieb ebenso wie die Überforderung der Betrachter angesichts moderner Bilderfindungen. Sie stellen aber auch die persönliche Auseinandersetzung mit künstlerischen Werken in den Mittelpunkt, die den Sammler auszeichnet, der selbst urteilen und wählen muss.

Honoré Daumier, Der Grafikliebhaber, um 1860–1862, © Privatsammlung

Sammler und Künstlerfreunde

Schon zu Lebzeiten fanden sich unter den Sammlern Daumiers zahlreiche Künstlerfreunde. Camille Corot beispielsweise erwarb Werke des befreundeten Künstlers, den er auch finanziell großzügig unterstützte. Der Bildhauer Adolph-Victor Geoffroy-Dechaume besaß eine exquisite Sammlung von Werken Daumiers, dem er persönlich verbunden war. Zudem gehörte der Fotograf Nadar, der selbst als Karikaturist begonnen hatte, zu den Sammlern Daumiers. Diese kurze Auflistung von Namen ließe sich mühelos fortsetzen – sie zeigt die Anerkennung des Künstlers, an den Eugène Delacroix 1850 schrieb: „Es gibt nur wenige, die ich so schätze wie sie.“

Als selbstverständlich kann diese Wertschätzung keinesfalls gelten, stellte Daumier mit seinen Karikaturen doch zunächst einmal die üblichen Kriterien künstlerischer Bewertungen in Frage. Konnte diese „Alltagskunst“ im Medium der noch jungen Lithografie, die in hohen Auflagen verbreitet wurde, überhaupt als Kunst im traditionellen Sinne gelten? Charles Baudelaire bejahte diese Frage bereits zu Lebzeiten des Künstlers und Degas folgte ihm in seinem Urteil, man könne Daumier ohne Frage an die Seite von meisterhaften Zeichnern wie Ingres und Delacroix stellen. Degas selbst besaß fünf Zeichnungen, ein Gemälde und etwa 750 Lithografien Daumiers. Seine Darstellungen des Pariser Lebens weisen in ihrer Themenvielfalt, in der Vorliebe für Anschnitte und Perspektivwechsel vielfältige Bezüge zu Daumier auf. Degas war damit bei weitem nicht der einzige aus dem Kreis der Künstler, die heute als Vertreter der klassischen Moderne gelten, der das Wegweisende der Kunst Daumiers erkannte. Man könnte ebenso Cézanne, Manet, van Gogh oder auch Picasso nennen.

Honoré Daumier, Eine Loge des Ventadour-Theaters…, 1856, © Privatsammlung

Daumier und der Kunstmarkt

Einem Künstler wie van Gogh, der häufig mit Geldknappheit rang, mag der Umstand zugutegekommen sein, dass die Zeitungsdrucke Daumiers oft für kleines Geld zu haben waren. Höhere Summen erzielten vor allem die Abzüge „sur blanc“, also auf weißem, kräftigem Druckpapier, die als Sonderauflagen parallel zu den auf minderwertigerem Papier gedruckten Zeitungsexemplaren herausgegeben wurden. Von großer Seltenheit sind insbesondere die Werke, die durch handschriftliche Notizen der Autoren der Bildunterschriften, der Drucker oder auch der Zensurbehörde zu Unikaten werden.

Honoré Daumier, Endlich! Man wird sich wieder um uns kümmern!, 1869, © Privatsammlung

Dass sich die zunehmende Bekanntheit des Künstlers über die Grenzen Frankreichs hinaus auf den Markt auswirkte, wurde schon früh beobachtet. Der Kustos des Dresdner Kupferstichkabinetts, Hans W. Singer, bemerkte in seinem Buch zur modernen Druckgrafik 1914:

Vor fünfzehn Jahren noch waren Daumiers für ein Butterbrot zu haben: hat er doch 4000 Steinzeichnungen geschaffen. Seitdem aber die Bedeutung des Meisters auf dem Gebiet der Malerei erkannt worden ist, erfolgt der Rückschlag auf seine Grafik. Und dazu kommt die Wertsteigerung, die die Grafik überhaupt in dem letzten Jahrfünft erlebt hat.

Dem Sammeln mag diese Preisentwicklung verschiedentlich Einhalt geboten haben. Doch gehört Daumier auch heute noch zu den Künstlern, deren Zeitungsdrucke aufgrund der hohen Auflagen in den Pariser Galerien günstig zu erwerben sind. So können Liebhaber seiner Werke die scharfsinnigen und humorvollen Kompositionen in den eigenen vier Wänden dauerhaft vor Augen haben. Ungeachtet der finanziellen Möglichkeiten gilt jedoch zweifellos das von Honoré de Balzac – einem Zeitgenossen Daumiers – geprägte Bonmot, Sammler seien Millionäre und damit keineswegs die reichsten, sondern die „leidenschaftlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt“.

In Frankfurt erkannte man übrigens schon früh die Bedeutung Daumiers. Bereits 1863, noch zu Lebzeiten des Künstlers, erwarb das Städel Museum 76 seiner Lithografien. Im Inventarbuch der Graphischen Sammlung wird als Verkäufer der Frankfurter Gustav Oehler genannt – und nicht, wie vielleicht zu erwarten, ein Pariser Händler. Oehler war bereits in den 1830er-Jahren in der freiheitlichen Bewegung politisch aktiv und gab ungeachtet von Verboten verschiedene politische Zeitschriften heraus. Er führte eine renommierte Buchhandlung und Leihbibliothek in der Zeil 38, zu der ein Journal- und Almanachlesezirkel für Abonnenten sowie ein Buchverlag gehörten.


Die Autorin Dr. Astrid Reuter ist Leiterin der Graphischen Sammlung bis 1800 und Kuratorin der Ausstellung „Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig“, die bis zum 12. Mai 2024 im Städel Museum zu sehen ist. 

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