Amsterdam in der Mitte des 17. Jahrhunderts – die „Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten“. So empfanden es zumindest all jene, die in der Handelsmetropole ein besseres Leben suchten. Eine von ihnen war die junge Dänin Elsje Christiaens, die nach einem fatalen Streit zum Tode verurteilt wurde. Kuratorin Corinna Gannon beleuchtet die historischen Hintergründe eines ungewöhnlichen Falls und erläutert, welche Rolle Rembrandt dabei spielte.
Hinweis: Dieser Beitrag thematisiert körperliche Gewalt und Tod.
Die Gründe, weshalb Menschen aus ganz Europa nach Amsterdam kamen, waren ganz verschieden: Die einen flohen aus religiösen Motiven in das relativ tolerante Amsterdam, andere hatten durch Seuchen oder die Folgen des Dreißigjährigen Krieges alles verloren und hofften auf einen Neuanfang. Das Amsterdam der Rembrandt-Zeit war ein Schmelztiegel: Menschen aus aller Welt kamen hier zusammen und prägten das Stadtbild. Warum genau die damals 18-jährige Elsje Christiaens im Frühjahr 1664 ihre dänische Heimat, die Halbinsel Jütland verließ, ist nicht bekannt.
In Amsterdam angekommen, suchte Elsje zunächst eine Bleibe und fand in Hafennähe bei einer „Slaapvrouw“, einer „Schlafmutter“ Unterschlupf. Da die Miete für den bescheidenen Schlafplatz pünktlich bezahlt werden musste, stand die Arbeitssuche für Elsje an erster Stelle. In der Stadt war es nicht ungewöhnlich, dass Frauen selbstbestimmt einer Arbeit nachgingen und ein finanziell unabhängiges Leben führten. Davon hatte vermutlich auch Elsje gehört und sich ihre Zukunft in Amsterdam ausgemalt. Doch ohne Sprachkenntnisse und Fürsprecher war eine Anstellung kaum möglich. Frauen in ähnlich verzweifelten Situationen sahen daher oft nur einen Ausweg: illegale Prostitution. Auch die „Schlafmutter“ könnte eine Bordellbesitzerin gewesen sein, wie es in Unterkünften in Hafennähe oft der Fall war. Doch für Elsje wäre das keine Option gewesen.
Johannes Lingelbach, Ansicht des Dam mit dem in Bau befindlichen neuen Rathaus, 1656, Amsterdam, Amsterdam Museum, Foto © Amsterdam Museum
Als Elsjes Ersparnisse aufgebraucht waren, forderte ihre Vermieterin sie auf, die Unterkunft wieder zu verlassen. Als Ausgleich für ihre Schulden wollte sie Elsjes bescheidene Habe einbehalten. Daraufhin kam es am Kellerabgang zum Streit zwischen den beiden Frauen. Die „Schlafmutter“ begann, Elsje mit einem Besen anzugreifen, die in ihrer Not nach einem Beil griff und auf die wütende Frau einschlug, sodass diese die Treppe herunterstürzte. Alarmiert von dem Lärm eilten die Nachbarn herbei und fanden sowohl den leblosen Körper der Vermieterin als auch das dänische Mädchen mit blutigen Händen vor. Panisch ergriff Elsje die Flucht, sprang in einen Kanal, wurde aber bald darauf gefasst und verhaftet.
Drei Tage lang wurde Elsje verhört – der Prozess ist in den Gerichtsakten im Amsterdamer Stadsarchief dokumentiert. Es lässt sich nur spekulieren, wie sich die Dänin in der ihr noch fremden Sprache verteidigt haben will. Ob die Fragen der Anklage für Elsje übersetzt wurden und ob ihr Teilgeständnis, anderen Mietern Kleidung gestohlen zu haben, auf einer korrekten Übersetzung der Fragen basiert, ist unklar. Jedenfalls hatte sie keine Chance, das finale Urteil abzuwenden: Elsje wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Sie sollte auf dem Dam, dem zentralen Platz in der Stadt, stranguliert werden. Außerdem, im Sinne der Spiegelstrafe, sollte der Scharfrichter ihr mit der Tatwaffe anschließend einige Schläge auf den Schädel zufügen.
Derartige Ereignisse waren ein makabres, öffentliches Spektakel, dem Hunderte von Schaulustigen beiwohnten – in diesem Falle wohl auch, weil Elsje die erste Frau war, die in Amsterdam seit 21 Jahren hingerichtet wurde. Die Strafe ging jedoch über den Tod hinaus: Ihr Leichnam sollte bis zur vollständigen Verwesung auf das Galgenfeld, den sogenannten Volewijck (= Ort, an dem sich Vögel aufhalten), verbracht werden, wo er Wind, Wetter, Aasvögeln, aber auch neugierigen Blicken ausgesetzt war. Damit verwehrte man ihr die letzte Ruhe. Warum wurde Elsje so hart bestraft? Sie hatte sich geweigert, ihren Richtern und ihrem Henker zu vergeben und damit die Strafe anzunehmen. Ob das für besondere Kaltblütigkeit, eine willensstarke Persönlichkeit spricht oder schlichtweg auf fehlenden Sprachkenntnissen basiert, bleibt offen.
Anthonie van Borssom, Das Amsterdamer Galgenfeld auf dem Volewijck, 1664/65, Amsterdam, Rijksmuseum, Foto © Rijksmuseum, Amsterdam
Alle Schiffe, die den Hafen von Amsterdam anliefen, kamen auch am Volewijck vorbei. Der Anblick der Hingerichteten sollte einerseits vor Straftaten abschrecken und andererseits unmissverständlich deutlich machen, dass in Amsterdam Recht und Ordnung herrschen. Er war aber auch ein beliebtes Ausflugziel, wie auf Anthonie van Borssoms Zeichnung, die kurz nach Elsjes Hinrichtung angefertigt wurde, zu sehen ist. An den Galgen hängen Leichen in unterschiedlichem Verwesungszustand. Davor stehen mehrere Personen und betrachten die toten Körper. Die Leiche eines Mannes ist auf einem großen Wagenrad platziert. Dank der bis heute erhalten gebliebenen Gerichtsakten können wir den Fall rekonstruieren: Es handelt sich um Elsjes Landsmann, den 36-jährigen Jan Nieuwkerk. Auch er hatte wenig Glück in Amsterdam, schlug sich als Tagelöhner durch und ließ sich wohl aus der Not heraus zu einem Auftragsmord überreden. Während der Auftraggeber entkam, machte man Nieuwkerk den Prozess, verurteilte ihn zum Tod durch Rädern (man band ihn auf ein Wagenrad und brach ihm anschließend alle Glieder) und verbrachte seinen Leichnam zusammen mit der Tatwaffe, der Pistole, auf den Volewijck. Unmittelbar daneben stellte man den Körper Elsjes aus. Deutlich zu erkennen ist sie anhand der Axt, die man neben ihrem Kopf befestigte.
Auch Rembrandt gehörte zu den Neugierigen, die das Galgenfeld besuchten. Der Fall Elsje muss Stadtgespräch gewesen sein. Mit ihm kamen einige seiner Kollegen und hatten ihre Zeichenutensilien im Gepäck. Rembrandt fühlte sich dem Credo verpflichtet, Abbildungen „naer het leven“ (nach der Natur) zu schaffen. Dabei verschloss er nicht die Augen vor sozialer Ungleichheit: Auch Bettler, Vagabunden und Tagelöhner bannte er wertfrei auf Papier.
Vor diesem Hintergrund muss auch Rembrandts Zeichnung von der toten Elsje Christiaens betrachtet werden. Frontal näherte er sich dem Pfahl, an dem man den Körper des Mädchens ausgestellt hatte. Obwohl man von unten zu ihr hochblicken musste, begibt sich Rembrandt mit seiner Zeichnung beinahe auf Augenhöhe und schafft so eine Unmittelbarkeit, der man sich kaum entziehen kann. Es gelingt ihm, Mitgefühl für die Hingerichtete zu erwecken. Wir sehen in erster Linie ein junges Mädchen, dessen Leben eine dramatische Wendung genommen haben muss. Der Rock ist zerschlissen und im Begriff, sich vom Saum zu lösen. Gehalten wird er nur durch die Fixierung des Körpers am Pfahl und die Schnürung, die man vorsorglich angebracht hat, um neugierige Blicke abzuhalten. Neben Rembrandt, so konnte die Rembrandt-Forscherin Stephanie Dickey plausibel machen, müssen sich mindestens drei weitere Künstler aufgestellt haben, um Elsje von verschiedenen Standpunkten zu zeichnen. War es der seltene Anlass, eine hingerichtete Frau „naer het leven“ studieren zu können, der die Männer auf den Volewijck kommen ließ? War es reine Schaulust? Oder beides?
Die Elsje Christiaensbrug in Amsterdam, 2017, Fotografie (Wikimedia Commons © Milliped)
Fakt ist: Die Geschichte von Elsje Christiaens wäre wohl bald in Vergessenheit geraten, hätten Rembrandt und Co. nicht zum Stift gegriffen. Es hat einen bitteren Beigeschmack, dass es eines großen Künstlernamens bedarf, um sich der jungen Dänin zu erinnern, die so hoffnungsvoll nach Amsterdam gekommen war. Und doch ist diese Geschichte symptomatisch für das Amsterdam der Rembrandt-Zeit. Sie steht stellvertretend für so viele Schicksale, die ansonsten unerzählt geblieben wären. Heute ist sogar eine Amsterdamer Brücke nach dem dänischen Mädchen benannt, die Elsje Christiaensbrug, die sich ganz in der Nähe des ehemaligen Galgenfeldes befindet.
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