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Der weibliche Körper zwischen Erfahrung und Repräsentation

Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft sind zentrale Themen in Annegret Soltaus Kunst. Ein Blick auf ihre Werke, mit denen sie oft Tabus gebrochen hat – sowohl visuell, als auch kulturell und politisch.

Gioia Mattner — 24. Juli 2025

Bereits seit den 1970er Jahren stellt Annegret Soltau die private und wenig sichtbare Erfahrung von Schwangerschaft in das Zentrum ihrer Arbeit. Sie macht sichtbar, was oft im Verborgenen bleibt: die körperlichen Veränderungen und Herausforderungen, aber auch Angst, Unsicherheit, Verletzlichkeit und Vorfreude. Als Pionierin im feministischen Diskurs bricht sie mit dieser Unsichtbarkeit und hinterfragt gesellschaftlich geprägte Vorstellungen von Weiblichkeit, indem sie ihren eigenen Körper und die eigene Biografie als künstlerisches Material nutzt. Die mehrteilige Fotoradierung „Ich wartend“ (1978/79) entstand im Zuge ihrer ersten Schwangerschaft. Die Verletzlichkeit und Angst, mit der sie als werdende Mutter konfrontiert ist, werden mit jedem Abzug der Fotografie greifbarer: Das Abbild ihrer Person sowie ihr Spiegelbild lösen sich im letzten Teil der Serie bis zur vollkommenen Schwärze auf.

Ausstellungsansicht „Ich wartend“ (1978/79), Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Annegret Soltau, Geteilte MUTTER-Säule, 1980/81, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Ulrike Hölzinger-Deuscher

Soltau idealisiert die Schwangerschaft nicht, sondern zeigt die existentielle Erfahrung in all ihrer Ambivalenz. Sie setzt das Warten auf die Geburt nicht mit der „freudigen Erwartung“ gleich, einer christlich entlehnten Metapher für den Zustand der Schwangerschaft. Für die Künstlerin ist diese Phase geprägt von einem intensiven Erleben, in dem sie sich mit tiefgehenden Ängsten, körperlichen Veränderungen sowie gesellschaftlichen und finanziellen Herausforderungen auseinandersetzt. Dabei geht es ihr auch um eine veränderte Wahrnehmung schwangerer Frauen und ihres gesellschaftlichen Status. In Soltaus feministisch geprägtem Umfeld war es damals verpönt, als Künstlerin Mutter zu werden. Bis heute wird die Vereinbarkeit dieser beiden Rollen oft in Frage gestellt, da Mutterschaft immer noch mit der Selbstaufgabe der Frau gleichgesetzt wird.

Körper, Schmerz und die Dekonstruktion der Mutterrolle

Zentral für die Auffassung von Mutterschaft in der westlichen Kunst war und ist bis heute die Mutter Jesu. Die „Maria Lactans“ ist ein Bildtypus, der Maria beim Stillen des Jesuskindes zeigt, die „Mater Dolorosa“ (Schmerzensmutter) steht für die lebenslange Sorge Marias um ihren Sohn und in der „Pietà“ hält sie den toten Körper des erwachsenen Jesus Christus. Was jedoch fehlt, ist die Geburt selbst, sie bleibt in der Darstellung der wohl berühmtesten Mutterfigur der christlichen Ikonografie unsichtbar.

Jan van Eyck, Lucca-Madonna, ca. 1437, Städel Museum, Frankfurt am Main

Werner Tübke, Pietà, modern, 24. April 1973, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Annegret Soltau, Auf dem geburtstisch schwanger II, 1978, Courtesy Richard Saltoun Gallery, London, Rom und New York, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Ulrike Hölzinger-Deuscher

Annegret Soltau bricht bewusst mit der idealisierten Darstellung von Mutterschaft. Der weibliche – ihr eigener – Körper wird nicht zur gefälligen Inszenierung, sondern als Austragungsort tiefgreifender und bedeutungsvoller Veränderung gezeigt. Eine Wandlung, die mit psychischem und körperlichen Herausforderungen verbunden ist, wie „Auf dem geburtstisch schwanger II“ (1978) deutlich macht. Die Atmosphäre wirkt kalt und klinisch, der Genitalbereich ist mit zahlreichen Stichen und Nähten notdürftig zusammengeflickt. Für viele Frauen stellt die Geburt eine existenzielle Grenzerfahrung dar, die auch mit körperlicher Verletzung verbunden ist.

Ausstellungsansicht „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Porträt Annegret Soltau, Foto: Städel Museum – Sebastian Heindorff

Mutterschaft, Herkunft, Identität: weibliche Verflechtungen

Soltau setzt sich nicht nur mit der Mutterrolle auseinander, sondern auch mit der Beziehung zu ihrer eigenen Mutter. 1946 in Lüneburg geboren, wächst sie ohne Vater auf. Er war Soldat und bleibt in ihrer Biografie ungreifbar. Unverheiratet und alleinerziehend gibt ihre Mutter die Fürsorge in der prekären Nachkriegszeit an Soltaus Großmutter ab – ein früher Bruch im Leben der Künstlerin.

In der Serie „generativ“ hat sich Soltau explizit mit ihrer weiblichen Abstammungslinie beschäftigt und sich so ihrer Mutter angenähert. Vor neutralem Weiß fotografierte sie ihre Tochter, sich selbst, ihre Mutter sowie – stellvertretend für die bereits verstorbene Großmutter – eine Nachbarin. Die Frauen sind nach Alter aufgereiht und durch die ineinandergelegten Arme miteinander verbunden. Ihre Gesichter und Oberkörper hat Soltau entfernt und untereinander wieder vernäht, die Jüngste trägt die Brüste der Ältesten und umgekehrt. Sichtbar wird ein zyklisches Bild weiblicher Existenz: Die Jugend lebt im Alter fort, ebenso ist das Kommende bereits im Jetzt angelegt. Der patriarchalen Erblinie stellt die Künstlerin eine weibliche Genealogie entgegen, die Frauen, die Mütter in ihrer Familie rücken ins Zentrum.

Annegret Soltau, generativ – Selbst mit Tochter, Mutter und Großmutter, 1994–2005, Archiv Annegret Soltau, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Fotodesign Hefele Darmstadt

Der Blick – wie wir Frauen sehen

Soltaus Arbeiten konfrontieren den Betrachter mit körperlichen Prozessen und widersetzen sich einem sogenannten „male gaze“, dem männlichen Blick. Der Begriff beschreibt laut des Kunsthistorikers John Berger (1972) die vorherrschende Sehweise, in der Frauen nicht als handelnde Subjekte, sondern als passive Objekte männlicher Betrachtung inszeniert werden. Besonders im weiblichen Akt zeigt sich dieser Blick: über Jahrhunderte hinweg idealisiert, erotisiert und entindividualisiert – stets gesehen durch männliche Augen und selten aus der Perspektive der Frauen selbst. Insbesondere im Kontext der feministischen Avantgarde der 1970er Jahre begannen Künstlerinnen sich ihren Körper wieder anzueignen und sich von dem erlernten „Blick“ zu befreien.

Ausstellungsansicht „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Annegret Soltau, Körper-Eingriffe (schwanger), #2, 1977–1978, Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, Dänemark. Erworden mit Mitteln des Museumsfonden af 7. December 1966, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Alexander Kaula

Soltaus Arbeit „Körper-Eingriffe (schwanger), Triptychon“ (1977/1978) ist dafür ein Beispiel: Nacktheit wird hier nicht erotisch inszeniert, sondern als Ausdruck der eigenen physischen Realität dargestellt. Im mittleren Teil der Fotovernähung hält die Künstlerin die Hände vor ihren nackten Körper, als wolle sie einen schwangeren Bauch formen: ein einfühlsamer Ausblick, auf das was kommen wird. In den zwei flankierenden Selbstporträts steht sie starr gerade, ihr Oberkörper ist fragmentiert mit verschiedenen Brüsten, prall von der Schwangerschaft, aber auch eine flache Brust – vielleicht sogar eine männliche Brust – ist erkennbar. Mit dieser Aktdarstellung und anderen Werken stellt Soltau das weibliche Körperbild in einen neuen Kontext. Ihre Kunst ist ein kraftvoller Ausdruck weiblicher Identität und zugleich ein beharrliches Aufbrechen jener starren Bilder, die in der Gesellschaft vom weiblichen Körper verankert sind.


Gioia Mattner ist wissenschaftliche Volontärin der Sammlung Gegenwartskunst am Städel Museum und wirkte an der Ausstellung „Unzensiert. Annegret Soltau – Eine Retrospektive“ mit, die noch bis zum 17. August 2025 im Städel Museum zu sehen ist.

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