Die Porträts von Victor Man entführen uns in eine geheimnisvolle Welt. Welche verblüffenden Bezüge es zur Literatur und zur Kunstgeschichte gibt und warum diese zeitgenössischen Kunstwerke in der Dauerausstellung Alte Meister ausgestellt sind, verrät Kuratorin Svenja Grosser im Interview.
Victor Man ist ein gefragter Gegenwartskünstler, der sich gleichzeitig rarmacht. Was zeichnet deiner Meinung nach die Einzigartigkeit seines Schaffens aus?
Victor Mans Arbeiten entziehen sich jeglicher Einordnung und stellen im Kontext der zeitgenössischen Malerei eine absolute Sonderposition dar. Sie sind nicht abstrakt, sondern figürlich, eher kleinformatig und lassen keine Rückschlüsse auf ihre Entstehungszeit zu. Aber: Hat man einmal einen „Victor Man“ gesehen, so wird man die Gemälde überall wiedererkennen. Es ist etwa diese düstere, unheimlich grünlich-glimmende Farbpalette, durchbrochen mit fluoreszierend-leuchtenden Blau-, Grün- und Rottönen, die die Werke des rumänischen Künstlers auszeichnet und zu seinem unverkennbaren Markenzeichen geworden ist.
Warum werden seine Kunstwerke inmitten der Dauerausstellung Alte Meister gezeigt und gibt es etwas, was dich daran als Kuratorin besonders fasziniert?
Die Gemälde des Künstlers zeugen von einer Atmosphäre vergangener Jahrhunderte und lassen ihre zeitliche Verortung selbst für so manchen Kunsthistoriker zur Herausforderung werden. Es sind insbesondere Einflüsse der Vorrenaissance, die immer wieder in den Werken Victor Mans aufscheinen, beispielsweise der Bezug zur christlichen Ikonografie, aber auch die klassische, stringente Bildkomposition, die all seine Werke der letzten zehn Jahre auszeichnet. Wir sind dementsprechend gerne dem Wunsch des Künstlers nachgekommen, seine Ausstellung unter den Alten Meistern zu präsentieren.
Für das Städel Museum ist das eine ganz besondere Chance: Wir vereinen in der Sammlung 700 Jahre Kunst unter einem Dach, aufgeteilt in verschiedene Bereiche. Nur selten gibt es die Möglichkeit, die Kunst in ganz neuen Konstellationen und Gegenüberstellungen über die Epochen hinweg zu erleben. Dadurch wird auch deutlich, dass zeitgenössische Kunst eng mit der Kunstgeschichte verflochten ist – insbesondere die Werke von Victor Man.
Der Ausstellungstitel „Die Linien des Lebens“ ist ein Zitat eines Gedichts von Friedrich Hölderlin und verweist auf die enge Verbindung Victor Mans zu Lyrik und Literatur allgemein. Wie kommt sie in seinen Gemälden zum Ausdruck?
Viele Arbeiten von Victor Man spielen auf die Literatur an. Beispielsweise das Gemälde „Untitled (Connaissez-vous des Esseintes?)“ (dt.: Kennen Sie des Esseintes?), das wir in der Ausstellung zeigen. Hierbei handelt es sich um einen Verweis auf den Roman „Gegen den Strich“ (1884) von Joris-Karl Huysmans. In dem Roman geht es um die Flucht des Menschen vor der Banalität des modernen Lebens: Diese Flucht endet für den Protagonisten Jean Floressas des Esseintes in einer Welt der Dekadenz, aber auch der Einsamkeit.
Auch die Werkserie „The Chandler“ spielt auf einen Klassiker an, auf den Roman „Orlando. Eine Biografie“ (1928) von Virginia Woolf. So findet sich beispielsweise in einem der Werke ein Wappen wieder, das auch auf dem Einband der Erstausgabe von Orlando zu sehen war.
Subtile Verweise auf Romane und Lyrik begleiten also immer wieder Victor Mans Arbeiten. Dennoch sind diese Bezüge oftmals nicht eindeutig. Vielmehr eröffnen sie weitere Ebenen, die in seinen Bildern mitzuschwingen scheinen.
Die Werkserie „The Chandler“ im zweiten Teil der Ausstellung zeigt immer das gleiche Motiv, aber in leicht veränderter Form. Was hat es damit auf sich?
Die Werkserie „The Chandler“ nahm ihren Anfang im Jahr 2013 und wurde von Victor Man in den darauffolgenden Jahren 2014, 2018 und 2023 um je ein Gemälde erweitert. In unterschiedlichen Größen und Techniken ausgeführt, zeigen alle acht Bilder das gleiche Motiv, aber in leicht veränderter Form: eine sitzende Figur, deren Gesicht vom oberen Bildrand abgeschnitten ist. Auf ihrem Schoß ruht absurder Weise ein Kopf.
Mit dieser Werkgruppe befragt Victor Man vor allen Dingen die Gattung des Porträts, indem er es um seine wichtigste Eigenschaft beraubt: das wiedererkennbare Abbild eines Menschen. Stattdessen lässt er das Porträt genau dort enden, wo üblicherweise das zentrale Motiv liegt – das Gesicht.
Wie bei einem abstrakten Bild legt der Künstler so den Fokus stärker auf die Form, die Malerei, als auf die dargestellte Person. Dem gemalten Porträt wird die Verbindung zu seinem Gegenstück in der realen Welt genommen. Es wird von der Realität unabhängig und kann nun als eigenständiges Bild betrachtet werden.
Warum dürfen unsere Leserinnen und Leser diese Ausstellung auf keinen Fall verpassen?
Unsere Zeit ist sehr schnelllebig, die Ausstellung lädt zum Verweilen und Abtauchen in eine ganz eigene Welt ein. So muss sich beispielsweise das Auge zunächst an die dunkle Farbpalette gewöhnen, um alle Details in den tiefen der Malereien zu erfassen. Die Besucher können in den zwei Ausstellungsräumen richtig abschalten und die Kunst auf sich wirken lassen. Gleichzeitig ist es auch seit zehn Jahren die erste institutionelle Ausstellung im deutschsprachigen Raum. So viele Arbeiten von Victor Man, der nur äußerst wenige Kunstwerke pro Jahr produziert, sieht man selten auf einen Schlag.
Mein persönliches Highlight ist, dass die Werkserie „The Chandler“ in der Ausstellung mit acht Werken vollständig präsentiert wird und erst dadurch ihre ganz besondere Wirkung entfalten kann. Die Ausstellung zeigt auch erstmals ein Werk, das zuvor noch nie präsentiert wurde, denn es kommt direkt aus dem Atelier des Künstlers. Diese einmalige Gelegenheit sollte man sich nicht entgehen lassen!
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