Unaufhaltsam durchzieht der schwarze Faden das Werk von Annegret Soltau – er umschlingt, fragmentiert, verbindet und hinterlässt Spuren. Maja Lisewski beleuchtet die Techniken der Verfechterin feministischer Kunst und Body Art: ihr Œuvre ist von einem ausgesprochen experimentierfreudigen Umgang mit Nadel, Faden und vor allem der Fotografie geprägt.
In den 1970er-Jahren erfreuten sich Fotografie und Videografie bei weiblichen Künstlerinnen großer Beliebtheit. Im Gegensatz zu Malerei und Bildhauerei waren diese sogenannten Neuen Medien noch nicht vollständig vom männlich dominierten Kanon besetzt. Sie dienten als Sprachrohr, um insbesondere feministischen Anliegen und Fragestellungen künstlerische Form zu verleihen – so auch bei Annegret Soltau.
Soltaus Fotoübernähungen und Fotovernähungen mit ihrem charakteristischen schwarzen Nähgarn sind heute unverkennbar. Dabei begann die 1946 in Lüneburg geborene und heute in Darmstadt lebende Künstlerin ihre Laufbahn mit Zeichnung und Radierung. Kurz nach dem Studium entstanden Arbeiten auf Papier, die die Bedeutung der Linie bereits verdeutlichen. Verbindend, einhüllend, aber auch fragmentierend und einengend setzt Soltau die gezeichnete oder für die Radierung eingeritzte Linie ein, um komplexes physisches wie psychisches Erleben sichtbar zu machen. Arbeiten wie „Umschlossene“ (1973) verweisen auf die korsettartige Existenz der Frau in der Gesellschaft der 1970er-Jahre, „Entzweiung“ (1976) dagegen auf das emotionale Netz, das zwischenmenschliche Beziehungen und Abhängigkeiten in sich tragen.
Soltau wollte diese auf dem Blatt bereits haptischen Eindrücke in den realen Raum übertragen – auf die Haut der Betrachter. Insbesondere ihre erste und schaffensdefinierende Performance „Permanente Demonstration“ im Jahr 1976, in der sie Galeriebesucher mit Faden umwickelte und somit unmittelbar miteinander verband, markiert den Anfang dieses neuen künstlerischen Kapitels. Jeder Teilnehmer war mit den anderen in Verbindung, jede Bewegung hatte Folgen für die Gemeinschaft. So setzte Soltau ihre Zeichnung auf der Haut der Protagonisten fort, die von unzähligen Fäden markiert war.
Ende 1975 führte Soltau das Medium Fotografie in ihr Werk ein: Sie fotografierte sich selbst als widerstandsfähigstes Modell für ihre Fadenumwicklung. Schnell erweiterte sie das zweidimensionale Medium um eine materialwirksame Komponente und bestickte ihre Selbstporträts mit schwarzem Faden. Mit dem Nähgarn, gemeinhin der privaten, häuslichen und damit weiblichen Sphäre zugeordnet, widersetzt sich Soltau patriarchalen Erwartungshaltungen. Sie entwickelt eine Naht, die Verbindungen sichtbar macht, statt im perfekten Handwerk unsichtbar zu bleiben.
Auch der heilende, verbindende Aspekt des Fadens steht in Soltaus Arbeiten im Vordergrund. Eine Haltung, die durch ihre Tätigkeit als Assistentin bei einem Unfallchirurgen am Hamburger Hafen beeinflusst sein mag. Sichtbar wird sie besonders in den Fotovernähungen ab 1977. In dieser Technik setzt und näht sie Fragmente zerrissener Fotografien wieder zusammen – später auch Fremdmaterial wie Urkunden oder Landkarten, etwa in „personal identity“ und „Vatersuche“ (beide seit 2003).
Neben der Erweiterung der Fotografie um eine haptische Dimension entwickelte Soltau eine dritte Technik – die Fotoradierung. Hierbei kombiniert die in Darmstadt ansässige Künstlerin Elemente der Radierung mit fotografischen Verfahren. Soltau bearbeitet das Fotonegativ mit einer Nadel. Nach jedem Arbeitsschritt wird ein Abzug erstellt, der die sukzessive Veränderung und letztliche Zerstörung des Negativs dokumentiert . Durch den Eingriff in die Unversehrtheit des Originals – bis hin zur Auflösung – hebt Soltau eines der wichtigsten Charakteristika der Fotografie auf: die Reproduzierbarkeit. Einmal zerstört, existieren nur so viele Abzüge, wie sie im jeweiligen Stadium angefertigt hat.
All diesen Techniken ist gemein, dass Soltau den menschlichen Körper mit Faden und Nadel dekonstruiert. Diese Fragmentierung begann bereits in den frühen Papierarbeiten und bestärkt die künstlerische Frage nach der inneren Konstitution des Menschen: Welche psychischen und physischen Herausforderungen sowie deren Spuren bleiben sichtbar? Welche Risse verstecken wir in der Gesellschaft? Die Fragmentierung des Körpers ist kein spezifisches Phänomen zeitgenössischer Kunst. Bereits in der Moderne wurde die isolierte Darstellung von Körperteilen zum Sinnbild gesellschaftlicher und technologischer Umbrüche im 19. Jahrhundert. Sie reflektiert eine Ära der Vielstimmigkeit, Zersplitterung und Unsicherheit. Auch in Soltaus Arbeiten klingt in der Trennung von Körperteilen eine komplexe Politik zwischen gesellschaftlicher Kontrolle und Erwartungshaltungen, insbesondere gegenüber der Frau, mit.
Doch Soltau endet nicht in der bloßen Fragmentierung: Es ist die Verbindung, die am Ende eines jeden fertigen Werks steht.
Besonders ihre vernähten Fotocollagen machen die Vielschichtigkeit des Menschen, seiner Existenz und Identität sichtbar. Mögen diese Werke auf den ersten Blick ungewöhnlich, gar herausfordernd erscheinen, eröffnet Soltaus stetiges Hinterfragen Reflexionsräume über die unterschiedlichen, teils widersprüchlichen und komplexen Facetten des menschlichen Wesens und zwischenmenschlicher Dynamiken.
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