Mit ihrer leuchtend glimmenden Farbpalette und mystischen Aura haben die Arbeiten des rumänischen Künstlers Victor Man (*1974, Cluj) die Kuratorin Svenja Grosser von Anfang an magisch in ihren Bann gezogen. Vor drei Jahren erwarb das Städel Museum ein Gemälde. Seitdem lässt sie der Künstler nicht mehr los. In Vorbereitung der Ausstellung „Victor Man. Die Linien des Lebens“ faszinierte Svenja Grosser eine Werkserie ganz besonders.
Beim Durchblättern von Katalogen und Büchern zum Werk von Victor Man überraschten mich immer wieder die Abbildungen einer auf einem Stuhl sitzenden Gestalt. An sich nichts Ungewöhnliches, doch ist der Kopf der Figur abrupt vom Bildrand abgeschnitten, stattdessen ruht er auf dem Schoß. Die Figur ist nur durch ihre Kleidung als Frau zu identifizieren. Der Kopf wirkt hingegen androgyn.
Je mehr ich über die Werkgruppe „The Chandler“ in Erfahrung bringen konnte, desto klarer wurde mir: In unserer Ausstellung soll die selten in ihrer Gesamtheit präsentierte Serie ein besonderes Highlight werden. Und so ist es uns gelungen, die weltweit verstreuten Werke vollständig auszustellen. Aber was hat es mit dieser mysteriösen Komposition eigentlich auf sich?
Seit 2013 kehrt Victor Man immer wieder zu dieser Werkgruppe zurück. Acht Arbeiten sind bereits entstanden, die jüngste stammt frisch aus dem Atelier des Künstlers und wird in unserer Ausstellung erstmalig gezeigt.
Wie für den rumänischen Künstler üblich, spannt sich ein reiches Netz literarischer, historischer wie kunsthistorischer Bezüge um die Serie: von dem Motiv der Enthauptung in der christlichen Bildtradition über mythologische Fabelwesen bis hin zu Szenen aus Kunst und Literatur.
Einige Bezüge sind offensichtlich oder lassen sich schnell recherchieren, denn der Künstler gibt uns Hinweise: So spielt er in einem der Werke bereits im Titel auf den französischen Maler Paul Gauguin an. Im Hintergrund des Gemäldes ist die Abbildung eines gehörnten Kopfes zu sehen: ein direktes Zitat aus dem Bilderkosmos Gauguins. Victor Man bezieht hier auch den Betrachter mit ein, denn er malt die Kreatur in einem Spiegel. Stellen wir uns im Ausstellungsraum vor das Gemälde, wäre es unser eigenes Spiegelbild, das uns teuflisch entgegenblickt.
Andere Bezüge sind weniger offensichtlich und es lohnte sich das Gespräch mit dem Künstler. Was hat es mit dem wappenähnlichen Emblem im Hintergrund eines der Werke auf sich? Victor Man verriet es mir: Es handelt sich um eine Referenz auf den Roman „Orlando. Eine Biografie“ (1928) von Virginia Woolf. Das Wappen ist auf dem Einband der Erstausgabe zu sehen. Woolfs Roman diente Man als eine von vielen Inspirationsquellen, weshalb sich auch Parallelen zu seiner Werkgruppe finden lassen: So wechselt der Protagonist bzw. die Protagonistin, Orlando, nach einem mehrtägigen Schlaf das Geschlecht vom Mann zur Frau. Das Thema der Androgynität und der Verschmelzung von Geschlechtern durchziehen nicht nur die Serie „The Chandler“, sondern Mans gesamtes Werk.
Und der Titel „The Chandler“? Victor Man bezieht sich auf den mittelalterlichen Beruf des Kerzenmachers, der in wohlhabenden Haushalten für die Instandhaltung von Kerzen verantwortlich war. Dazu gehörte auch das Abschneiden der Dochte, um die vermehrte Bildung von Ruß zu vermeiden. Eine Anspielung auf die Begrenzung des Bildfeldes unterhalb des Kopfes, die zu einer malerischen „Enthauptung“ der Dargestellten führt.
Was mich aber besonders an der Werkgruppe fesselte, war der konzeptuelle Umgang mit der Gattung des Porträts. Victor Man hinterfragt die Rolle des Porträts, indem er es seiner wichtigsten Eigenschaft beraubt: dem Abbilden eines Menschen. Stattdessen lässt er das Bild genau dort enden, wo üblicherweise das zentrale Motiv des Porträts liegt – das Gesicht.
Wie bei abstrakter Malerei legt Man den Fokus so stärker auf die Form als auf die Darstellung. Das gemalte Porträt verliert die Verbindung zu seinem Gegenstück in der realen Welt. Es wird von der Realität unabhängig und kann nun als vollständig eigenständig wahrgenommen werden.
Doch damit nicht genug. Sieht man sich die auf den ersten Blick schnell erfassbare Komposition nun noch genauer an, fallen kleinere Unstimmigkeiten auf. So unterbricht der Künstler in einigen der Werke beispielsweise das Stuhlbein.
In dem einzigen Aquarell der Werkgruppe fehlt der Stuhl gänzlich. Die Figur scheint zu schweben. In der flüchtigen Wahrnehmung und der Serialität der Werkgruppe geht diese surreale Abweichung – gleich einer optischen Illusion – fast unter. Victor Man zeigt damit auch, wie vorschnell die erste Einordnung eines Bildes sein kann.
In seinen Gemälden löst sich Man immer wieder von den gängigen Konventionen zeitgenössischer Kunst. So lässt sich auch die Werkgruppe „The Chandler“ nur in ihrer Vielschichtigkeit ergründen. Es lohnt sich also, Zeit mitzubringen, wenn man die Werke von Victor Man betrachtet, denn: Hinter der dunklen Ölmalerei gibt es viele Geheimnisse zu lüften.
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