Der Brief einer älteren Dame führt Italien-Kurator Bastian Eclercy zu einem beeindruckenden Gemälde – das sie am Ende dem Städel als Schenkung überlässt. Aber wer ist der Künstler? Eine Spurensuche.
Am Anfang stand ein warmherziger Brief einer älteren Dame. Sie hatte vor Jahren einige Gemälde aus einem Landhaus in Italien ererbt und machte sich nun Gedanken über deren rechten Ort für die Zukunft. In dem Brief fasste sie ihren Wissensstand zu den Bildern zusammen und fügte Farbausdrucke bei. Auch deutete sie an – falls eines der Gemälde von musealer Bedeutung sei – dieses dem Städel Museum als Schenkung überlassen zu wollen. Nach einigen Vorrecherchen anhand der Abbildungen statteten unser Chefrestaurator Stephan Knobloch, meine Mitarbeiterin Adela Kutschke und ich der Dame einen Besuch ab, um die Gemälde in Augenschein zu nehmen. Sie empfing uns herzlich, mit großer Begeisterung für alles, was mit Kunst zu tun hat, und mit klugen Geschichten aus einem bewegten Leben.
Rasch zog uns eines der Bilder in seinen Bann. Man muss sich dabei klarmachen, dass es etwas grundlegend anderes ist, ein Bild in einer Privatwohnung zu betrachten als in einem Museum. Im privaten Kontext fehlt die Aura einer altehrwürdigen Gemäldesammlung, die ein Werk adelt und suggeriert, dass der historische Selektionsprozess, was Kunst und was Krempel ist, bereits zugunsten der ersteren entschieden sei. Hier ist oder scheint dagegen noch alles offen und klärungsbedürftig: Meisterwerk oder Schülerarbeit? Original oder Kopie? Museum oder Flohmarkt?
Für die Einordnung kann man bei unpublizierten Gemälden einer Privatsammlung freilich auch nicht auf die Erkenntnisse vorausgehender Forschung zurückgreifen, sondern beginnt bei Null. Das Bild, das unser Interesse geweckt hatte, war nicht bezeichnet, keine Signatur, kein Datum, kein Hinweis auf die geografische Herkunft. Aus welchem Jahrhundert stammt es überhaupt? Aus welcher Region? Wer könnte der Maler sein? Was ist eigentlich dargestellt? Kein museales Bilderlabel als unerschöpflicher Quell der Weisheit hilft uns hier weiter. Wir haben nur das rein visuelle Zeugnis des Werkes selbst – und das, was unseren Beruf ausmacht: ein Bildgedächtnis mit gespeicherten Vergleichswerken, das methodische Rüstzeug kennerschaftlicher Bestimmung sowie die durch Erfahrung gespeiste Intuition.
Schauen wir uns das Gemälde also genauer an. Es zeigt einen sitzenden Heiligen in Halbfigur, der die Hände zum Gebet gefaltet hat und sich auf einen Bücherstapel stützt. In einer plötzlichen Drehbewegung wendet sich der weißhaarige Alte um und richtet seinen intensiven Blick aus hervortretenden Augen zum Himmel, als würde ihm dort ein Engel oder der Herr selbst erscheinen. Aus derselben Richtung fällt ein heller Lichtstrahl ein und lässt ihn aus dem Dunkel aufleuchten. Sein nackter Körper, den ein Mantel nur spärlich bedeckt, ist kräftig, aber von Alter und Entbehrung gezeichnet.
Stilistisch gehört das Leinwandbild zweifellos in den weiteren Zusammenhang der von Caravaggio und Ribera zu Beginn des 17. Jahrhunderts begründeten Hell-Dunkel-Malerei, wie sie vor allem in Rom und Neapel verbreitet war. Für die Komposition lässt sich sogar ein konkretes Vorbild ausmachen, auf das ich gleich zu Beginn meiner Recherchen gestoßen war. Es handelt sich um einen Heiligen Paulus Eremita des Jusepe de Ribera, um 1638 entstanden und heute im Walters Art Museum in Baltimore bewahrt. Da die glattere Wiedergabe der Haut des Heiligen bei unserem Gemälde jedoch deutlich von der schründig zerfurchten Epidermis bei Ribera abweicht, kommt der spanische Meister, der zuerst in Rom und dann über Jahrzehnte in Neapel tätig war, als Autor gleichwohl nicht in Betracht.
So führte mich meine Suche zunächst zu den Neapolitaner Malern der Generation nach Ribera und zu meiner ersten Arbeitshypothese: Mattia Preti. Hier fanden sich stilistisch engere Parallelen, doch war dies noch nicht die Lösung. Anhand eines Fotos fragte ich eine Reihe von im italienischen Barock sehr versierten Kollegen aus aller Welt um Rat. Zu meiner Freude antworteten alle fünf zügig und freundlich – mit fünf ganz unterschiedlichen Zuschreibungsvorschlägen.
Der entscheidende Hinweis kam schließlich von meinem Mainzer Kollegen Heiko Damm, der mich an den römischen Maler Giacinto Brandi (1621-1691) erinnerte. Heute nur noch Spezialisten bekannt, war Brandi in seiner Zeit ein geschätzter Meister. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte er zahlreiche bedeutende Kirchen in und um Rom mit Fresken und Altarbildern ausgestattet und war zeitweise der römischen Malerakademie (Accademia di San Luca) vorgestanden. Wer durch die Barockkirchen Roms geht, wird immer wieder auf seinen Namen stoßen. Bezeichnenderweise stand Brandi mit Mattia Preti, meinem ersten Versuch, in künstlerischem Austausch. Diese Spur aufnehmend fand ich in Brandis Werken der 1670er Jahre die engsten stilistischen Bezüge zu unserem Bild, das sich besonders einleuchtend etwa mit dem Heiligen Hieronymus der Galleria Nazionale in Cosenza vergleichen lässt. Eine Rücksprache mit der Verfasserin des Brandi-Werkverzeichnisses bestärkte mich in dieser Einordnung.
Schwierig und bislang ungelöst bleibt jedoch die Identifizierung des Dargestellten. Offenbar handelt es sich um einen Heiligen, der sein Leben mit Buße und Gebet als Eremit in der Einöde verbringt. In Frage käme der Heilige Paulus Eremita, den Ribera in seinem erwähnten Werk in Baltimore zeigt, das für Brandi vorbildlich war; doch auch Hieronymus, der Büßer in der Wüste, oder der Apostel Bartholomäus werden ähnlich dargestellt. Eindeutige Attribute fehlen indes: das Gewand aus Korbgeflecht für Paulus Eremita, Totenschädel, Kreuz und Löwe für Hieronymus, das Messer für Bartholomäus.
Als ein spätes Zeugnis der „caravaggesken“ Hell-Dunkel-Malerei ergänzt die Schenkung des in deutschen Sammlungen bislang kaum vertretenen Malers den Städel-Bestand an Barockgemälden aus Rom und Neapel in jedem Falle trefflich. So hängt Brandi nun vereint mit Jusepe Ribera und Guido Reni, mit Guercino, Massimo Stanzione und Luca Giordano. Das Bild hat damit seinen rechten Ort gefunden. Physisch und kunsthistorisch. Der Stifterin sei Dank!
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