Wenn möglich, mischt sich unter die Besucher der Beckmann-Ausstellung ein überraschender Gast: Bastian Eclercy. Was fasziniert den Kurator für Alte Meister an Max Beckmann? Ein persönlicher Bericht.
Ich habe es nicht weit. Nur wenige Schritte liegen zwischen meinem Büro und dem Ausstellungshaus, in dem derzeit die Sonderpräsentation unserer reichen Bestände an Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken aus Max Beckmanns Frankfurter Zeit zu sehen ist. Auch den Beckmann-Saal im Sammlungsbereich Kunst der Moderne durchquere ich mehrfach täglich. Eigentlich habe ich dort gar nichts verloren, befinden sich doch die von mir verantworteten Galerieräume der italienischen, französischen und spanischen Malerei bei den Alten Meistern im zweiten Obergeschoss. Und doch zieht es mich zwischendurch immer wieder zu Beckmann.
Wie kam ich nun von der italienischen Malerei der Renaissance und des Barock zu dem deutschen Klassiker der Moderne, der sich einer Einordnung in die Stilschubladen des 20. Jahrhunderts so hartnäckig entzieht? Eigentlich kann man sich einen größeren Gegensatz kaum vorstellen: auf der einen Seite die aufs Äußerste verfeinerte Ästhetik eines Agnolo Bronzino oder Guido Reni (um zwei persönliche Favoriten zu nennen), die ganz auf Eleganz und porzellanartige Feinheit der Oberfläche abzielt; auf der anderen die fast brachiale Urgewalt der Malerei Beckmanns mit ihrer Kantigkeit, der deutlich sichtbar belassenen Pinselführung und einer oft grellen Farbigkeit.
Mein Weg war gewissermaßen umgekehrt. Schon als Teenager, Jahre bevor mich die italienischen Altmeister in ihren Bann zogen, pilgerte ich zu Beckmann. Mein frühes Interesse für Malerei – immer historisch, mangels Talent jedoch nie praktisch – begann in den für mich damals nahegelegenen Münchner Museen. So begegnete ich seinem Werk zuallererst in der Staatsgalerie moderner Kunst in München, dem Vorgänger der heutigen Pinakothek der Moderne, die wie das Städel Museum eine der größten und bedeutendsten Beckmann-Sammlungen beherbergt. Wie komplementär die Bestände der beiden Häuser sind, veranschaulichen am schönsten die beiden sogenannten Großen Stillleben, zwei monumentale Querformate aus der Frankfurter Zeit: das Große Stillleben mit Fernrohr (1927) in München und das Stillleben mit Saxofonen (1926) in Frankfurt.
Daneben waren es zahlreiche Ausstellungen zu Beckmann, die meine Beschäftigung mit ihm angeregt und begleitet haben. Die erste, die ich besuchte, war die kleine, aber höchst eindrucksvolle Schau der Selbstbildnisse 1993 in München. Ziemlich viel Ego auf einem Fleck, so empfand ich es als 15-Jähriger, und doch ließ mich der selbstverliebte Quadratschädel nicht mehr los. Exponat Nummer 10, stelle ich im Katalog blätternd fest, war damals übrigens jenes Selbstbildnis mit Sektglas, das jetzt – gerade vom Städel erworben – den Ausgangspunkt der Frankfurter Schau bildet.
Bislang habe ich mich um die Frage herumgedrückt, was die Faszination von Beckmanns Kunst auf mich (und offenbar viele andere) eigentlich ausmacht. Neben einer frühen persönlichen Prägung spielen dabei auch handfestere kunsthistorische Aspekte eine Rolle. Ich stelle dazu zwei Thesen in den Raum:
Erstens: Beckmann gehört zu den wenigen Künstlern der Klassischen Moderne, die ein über Jahrzehnte hinweg sich stringent entwickelndes Œuvre in gleichbleibender Qualität vorzuweisen haben. Das war gerade in seiner Generation alles andere als selbstverständlich, haben doch viele der Zeitgenossen bis zum Ersten Weltkrieg ein avantgardistisches Feuerwerk gezündet, um danach über viele Dekaden der gefälligen Buntmalerei nach dem Prinzip einer ‚Moderne Light‘ zu frönen.
Dagegen war Beckmanns künstlerischer Werdegang von bemerkenswerter Konsequenz und in allen Perioden auf höchstem Niveau: von den frühen Bildern im Stil der Berliner Sezession und der ‚spätgotischen‘ Phase nach dem Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg über die zunehmend mit französischer Eleganz gepaarte Sachlichkeit der Zwanzigerjahre und die düstere Verrätselung der Amsterdamer Zeit bis zu den grellen, beschwingten Werken der letzten Jahre in Amerika.
Zweitens: In Beckmanns Malerei stehen Form und Inhalt in einem gleichberechtigten und komplementären Verhältnis zueinander. Auch dies ist bei vielen anderen Strömungen der frühen Avantgarde nicht der Fall. So ist etwa die Kunst des Kubismus primär dem formalen Experiment verpflichtet, die Traumwelt der Surrealisten stark von der Literatur geprägt.
Ich veranschauliche den Zusammenhang an einem wenig bekannten, aber aufschlussreichen Beispiel, der Winterlandschaft von 1930 in Eindhoven. Beckmanns Landschaften, die mir generell noch immer unterbewertet scheinen, wirken auf den ersten Blick einfacher als seine Figurenbilder, entpuppen sich aber oft als tiefgründige metaphorische Reflexionen über die Welt.
Den Blick aus dem Fenster auf die kahlen, verschneiten Bäume schuf er im Oktober (!) 1930, wohl in Paris. Mit Naturbeobachtung hat das also schon aus chronologischen Gründen wenig zu tun. Beckmann greift hier vielmehr eine Metapher auf, die in der Kunsttheorie seit Leon Battista Alberti (1435/36) geläufig ist: das Gemälde als Fenster in die Welt. Mit den schräg offenstehenden Flügeln und der Staffelung vom Fenstersims über den Balkon bis zu den Häusern gegenüber deutet er mehr symbolisch als real eine Perspektive an.
Gleichzeitig wird der suggerierte Blick in die Tiefe gleich wieder verstellt und vergittert – durch die Fensterstreben, die Barriere des Balkons und die aufragenden Bäume. Es ist eine bipolare Welt, die Beckmann uns hier vorführt: der eine Flügel transparent, der andere durch Vereisung opak, die Bäume weiß verschneit auf der einen, tiefschwarz auf der anderen Seite. Dieses enge Zusammenspiel von Formgebung und metaphorischer Bedeutung lässt erahnen, warum Beckmann oft als der Alte Meister unter den Modernen gehandelt wird.
Obwohl Beckmann – anders als etwa Vincent van Gogh, Paul Cézanne oder Pablo Picasso – kaum je Werke der Alten Meister kopiert oder paraphrasiert hat, so setzte er sich doch als eifriger Museumsgänger intensiv mit ihnen auseinander. Aus seinen Briefen und Tagebüchern geht hervor, dass er neben dem Städel Museum, dem er als Lehrer an der Städelschule besonders verbunden war, u.a. das Rijksmuseum in Amsterdam, das Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin, die Alte Pinakothek in München, das Metropolitan Museum in New York, den Louvre in Paris und das Kunsthistorische Museum in Wien besuchte. Zu den Künstlern, die er in seinen Aufzeichnungen hervorhebt, zählen unter anderem Hieronymus Bosch, Lucas Cranach d. Ä., Grünewald, Frans Hals, Rembrandt, Rubens, Tintoretto, Tizian und Rogier van der Weyden – alles Alte Meister, die uns heute im Städel Museum begegnen.
Die tiefsten Spuren hat das Studium der Alten Meister in Beckmanns Frühwerk hinterlassen, wie ein Frankfurter Beispiel verdeutlicht. Bei seinen Besuchen in der Liebieghaus Skulpturensammlung begeisterte sich der Maler nach dem Zeugnis seiner Freunde für die mittelalterlichen Bildwerke, vor allem für eine mittelrheinische Pietà. Diese eindringliche Skulptur soll ihn zu einem frühen Hauptwerk, der Kreuzabnahme (1917), inspiriert haben, für deren Komposition überdies auch altdeutsche oder altniederländische Gemälde anregend gewesen sein dürften. 1919 kaufte Städel Direktor Georg Swarzenski die Kreuzabnahme für Frankfurt, doch bereits 1936 konfiszierten die Nationalsozialisten das Bild als „Entartete Kunst“. Heute gehört es zu den Glanzstücken des Museum of Modern Art in New York.
Die Beschäftigung mit der Spätgotik in den Jahren nach seinem Zusammenbruch und der Übersiedlung nach Frankfurt 1915 wird in den kantigen, eckig umbrechenden Formen, den überlängten Figuren und dem fahlen Kolorit der Inkarnate anschaulich. Beckmann muss die herbe Bildsprache des späten Mittelalters seiner eigenen Verfasstheit kongenial erschienen sein. Jedenfalls empfand er sie als adäquat für seine Darstellung fragiler Körper in einer zertrümmerten Welt.
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