Mit der Erwerbung des „Fressenden Löwen“ von Rembrandt Bugatti anlässlich des 125. Geburtstags des Städelschen Museums-Vereins kann das Städel Museum nun eine Bronzeskulptur dieses Bildhauers einem breiten Publikum zugänglich machen – als eines von lediglich zwei Museen in Deutschland. Die Kunsthistorikerin Eva Mongi-Vollmer stellt Rembrandt Bugatti und sein Schaffen vor.
Der junge italienische Bildhauer Rembrandt Bugatti, der 1908 im Antwerpener Zoo einen Löwen beim Fressen beobachtete, hatte vermutlich weder die Instinkte einer wilden Raubkatze, noch den Charakter eines Löwenbändigers. Er hatte andere, bessere Qualitäten, die ihn zu einem der interessantesten Tierbildhauer des frühen 20. Jahrhunderts machten.
Ein erster Blick auf die Skulptur „Fressender Löwe“ von 1908 genügt, um dies zu verstehen. Flach ausgestreckt liegt das Tier auf einer knapp bemessenen Plinthe. Sein wuchtiger Kopf neigt sich nach unten – Blick und Maul sind auf das einzige Objekt gerichtet, das ihn in diesem Moment interessiert: die vor ihm liegende Mahlzeit. Mit seinen kräftigen Vorderpfoten fixiert der Löwe den deformierten Fleischbrocken, die angewinkelten Hinterläufe schmiegen sich eng an den Leib. Über den unregelmäßigen Rand der Plinthe ragen diese Extremitäten kaum hervor, während der ausgestreckte Schwanz weit in den leeren Raum jenseits dieser definierten Grundfläche hinausreicht.
Die Darstellung dieses gewaltigen Raubtiers ist alles andere als heroisch. Bugattis Löwe stellt keinen Herrschaftsanspruch, im Gegenteil. Nicht nach vorne beansprucht er Raum, mit einer erhobenen Pranke etwa, sondern ganz unspektakulär nach hinten – mit dem Schwanz. Damit brach Bugatti mit einer langen visuellen und kulturhistorischen Tradition, in der Tiere in der menschlichen Weltordnung mit entsprechenden Posen dargestellt wurden. Insbesondere die Großkatze, in der Herrscherikonografie fest verankert, war häufig Sinnbild für Kraft, Gewalt und Macht und somit eine ideale Blaupause für menschliche Helden.
Doch brach Bugattis Löwe noch mit einer weiteren Tradition: Das Motiv ist nicht schnell zu erfassen. Im Ersten Moment wirkt es eher wie eine kräftig durchgeknetete Masse. Die Augen müssen langsam über den Körper gleiten, um den Gegenstand zu entschlüsseln. Künstler und Betrachter benötigen damit gleichermaßen Geduld und Aufmerksamkeit. So macht Bugatti das Sehen zu einer aktiven Aufgabe – statt eines beiläufigen Vorgangs.
Nicht von ungefähr wurde Bugatti von seinen Zeitgenossen als impressionistischer Bildhauer bezeichnet. Der Begriff „impressionistische Skulptur“ war in den Jahren zwischen 1880 und 1920 durchaus gängig und bezeichnete mehr oder weniger mit der impressionistischen Malerei assoziierte Charakteristika – eine verbindliche Definition existiert nicht. Das Einfangen eines Augenblickes (gerne auch aus ungewöhnlichem Blickwinkel), Motive, die häufig im sogenannten modernen Leben verortet sind, die Wiedergabe derselben in skizzenhafter Weise, das bewusste Sichtbarmachen des Schaffensprozesses, das Spiel des Lichts und die aktive Teilhabe des Betrachters am Sehen und Beobachten – das sind die wesentlichen Stichworte. Zu den bedeutendsten impressionistischen Bildhauern wurden damals Auguste Rodin, Medardo Rosso und Edgar Degas gezählt.
Auch beim „Fressenden Löwen“ finden sich einige dieser Aspekte wieder. Bugatti zeigte seine Tiere unvoreingenommen als ausschließlich das, was er im Augenblick der Beobachtung an und in ihnen erkennen konnte. Den Löwen beobachtete Bugatti in menschlicher Gefangenschaft, im Zoo. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zoologische Gärten, die dem natürlichen Lebensraum der Tiere keineswegs entsprachen, zunehmend zu beliebten Bildungs- und Vergnügungsstätten für das städtische Bürgertum. Im Kontext des Kolonialismus etablierten sie sich in zahlreichen europäischen Metropolen. Zu beobachten gab es auch exotische Tiere – unter idealen Bedingungen für den neugierigen Besucher und aus heutiger Sicht bedenklichen für die eingehegten Geschöpfe. Für Künstler war der Zoo ein beliebtes Freiluftatelier, hier konnten die Modelle stundenlang „en plein air“ beobachtet, gezeichnet, gemalt oder modelliert werden. Der Zoo in Antwerpen, in dem der „Fressende Löwe“ entstand, förderte dies ausdrücklich durch die „Bereitstellung lebender Vorlagen für Künstler“ und indem er Letzteren das hohe Eintrittsgeld erließ.
Bei der plastischen Umsetzung der Zoobewohner bemühte sich Bugatti, die charakteristischen Körpermerkmale und Verhaltensmuster zu erfassen. Am Löwen beispielsweise faszinierte ihn das Fressen. Diese Gier, die absolute Hingabe – obgleich keine erlegte Beute, sondern bereitgelegtes Futter – und damit vielleicht der einzig verbliebene, auszulebende Instinkt des gebändigten Tieres. Wissenschaftliche Kenntnisse oder Anatomiestudien spielten dabei für Bugatti keine Rolle. Einzig die genaue Beobachtung zählte. Diese galt es rasch in weiche Materialien zu übertragen. Gerne nutzte der Künstler dazu den damals noch neuartigen, langsamer als Ton trocknenden Werkstoff Plastilin, zusammengesetzt aus weißer Tonerde, Wachsen und Ölen. Arbeitsspuren, von Kratzern bis zu Fingerabdrücken, ließ Bugatti wie die anderen Bildhauer des Impressionismus bewusst sichtbar, was seinen Skulpturen einen augenblicklichen Charakter verlieh – als habe er nur für einen kurzen Moment den Arbeitsplatz verlassen und als sei das Werk „non finito“, also unvollendet.
Für die Übertragung der bewegten Formen und vitalen Oberflächen in Bronze arbeitete Bugatti mit der Pariser Gießerei Hébrard, in der beispielsweise auch die Erben von Degas dessen plastischen Nachlass gießen ließen. Der „Fressende Löwe“ wurde im sogenannten Wachsausschmelzverfahren (Cire perdue) drei Mal gegossen – Bugatti gehörte zu den ersten Bildhauern, deren Werke limitiert angeboten wurden. Die Wahl der tiefbraunen, glänzenden Patina ließ das intensive Lichtspiel auf der alles andere als planen Oberfläche ideal zur Geltung kommen und sorgte so für die damals als „malerisch“ bezeichnete Wirkung der impressionistischen Plastik.
Als Bugatti im Alter von 24 Jahren den Löwen schuf, lag der längste Teil seines Lebens bereits hinter ihm. Sein Schaffen als Tierplastiker hatte früh begonnen. Aus einer schillernden Künstlerfamilie stammend – sein Vater Carlo war ein exzentrischer Designer, sein Bruder Ettore der berühmte Automobilkonstrukteur – nahm er 1901 im Alter von 16 Jahren erstmals an der Mailänder Frühjahrsausstellung teil. Künstlerisch beeinflusst wurde er, ohne je systematischen Unterricht erfahren zu haben, unter anderem durch den erfolgreichen Bildhauer Paolo Troubetzkoy sowie seinen Onkel, den Maler Giovanni Segantini. Im Hause Bugatti verkehrten darüber hinaus bedeutende Musiker, darunter Giacomo Puccini. Die Familie siedelte 1903 nach Paris um. Dort entdeckte Bugatti für sich den zoologischen Garten im Jardin des Plantes. Schon 1904 hatte er seine erste Einzelausstellung, nicht von ungefähr in den Geschäftsräumen der Gießerei Adrien-Aurélien Hébrards. Ab 1907 arbeitete Bugatti intensiv im zoologischen Garten in Antwerpen, der Großteil seiner Werke, rund 300 Plastiken, sollte bis 1914 hier entstehen. Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges verdüsterte sich die Lage allerdings dramatisch. Bugatti musste miterleben, dass der Antwerpener Zoo seine Tiere aus Futtermangel tötete. Auch schwanden seine Möglichkeiten, Käufer für seine Werke zu finden. Am 8. Januar 1916 nahm sich Bugatti in Paris das Leben.
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