Rineke Dijkstras „Beach Portraits“ schaffen einfühlsame Begegnungen, mit denen die Künstlerin auch die Frage nach Authentizität in der Porträtfotografie aufwirft. Was macht diese Fotografien so zeitlos und berührend? Kuratorin Maja Lisewski gibt im Interview Einblicke in den Entstehungsprozess der Werke und spricht über die Vielschichtigkeit des fotografischen Moments.
Rineke Dijkstras Fotografien der Serie „Beach Portraits“ zeigen junge Menschen, die direkt in die Kamera schauen – ein einfühlsamer und zugleich fragiler Moment. Was hat die Künstlerin dazu bewegt, sich in ihrer fotografischen Praxis auf junge Menschen zu konzentrieren?
Anders als man auf den ersten Blick vermuten könnte, gilt Dijkstras Interesse nicht primär dem Thema der jungen Heranwachsenden an sich. Vielmehr fasziniert sie das Aufkommen von Authentizität in der Porträtfotografie. Dieses Moment ist bei Jugendlichen aufgrund der noch nicht vollständig erlernten medial und gesellschaftlich geprägten Verhaltensweisen präsenter. Hintergrund für Dijkstras künstlerische Fragestellung ist ihr früherer Beruf als Porträtfotografin, unter anderem für Wirtschaftsmagazine, wo ein Höchstmaß an Inszenierung und Selbstdarstellung dominierte. Dieses Extrem und die sehr präsente „Staged Photography“, also stark inszenierte Fotografie der 1980er-Jahre, führten die niederländische Künstlerin zur Suche nach dem Moment der Natürlichkeit in ihrer eigenen Arbeit.
Die Fotografien wirken unverstellt, zeitlos und zugleich berührend. Worauf legt die Künstlerin bei ihrer Arbeit besonders Wert, um diesen Eindruck von Authentizität und Empathie zu kreieren?
Rineke Dijkstra gibt während des Fotoshootings zum einen keinerlei Anweisungen zur Haltung oder Kleidung. Sie bittet lediglich darum, nicht zu lächeln – eine oft reflexartige Pose für die Kamera. Dadurch sind die Porträtierten ganz auf sich selbst zurückgeworfen und mit der Überlegung konfrontiert: ‚Wie sollen andere mich sehen? Wie sehe ich mich selbst?‘ Bei Dijkstras fotografischen Kompositionen ist der direkte Blick der Dargestellten in die Kamera von zentraler Bedeutung. Ein Blick, der den unseren erwidert. Dijkstra unterstreicht den empathischen Eindruck zudem durch die Wahl der Kamerahöhe. Die Jugendlichen werden leicht unter Augenhöhe, in einer zentralen Position auf der Bildfläche, abgebildet. Die Unterperspektive verleiht den Porträtierten eine würdevolle Präsenz. Der fotografische Prozess mit der Großformatkamera unterstützt Dijkstra bei der Suche nach Authentizität – er ist langsam und beinahe langwierig. Diese Art der Entschleunigung bringt die Porträtierten dazu, ihre erste – gewollte oder ungewollte – Selbstinszenierung irgendwann etwas fallen zu lassen. Diesen Moment, in dem das Individuelle und Natürliche durchscheint, fängt Dijkstra ein.
Rineke Dijkstras Arbeiten werden oft mit der Kunstgeschichte in Verbindung gebracht, mit Künstlern wie August Sander und Sandro Botticelli. Wo siehst Du als Kuratorin Parallelen und inwiefern sind diese von der Künstlerin beabsichtigt?
Die Lichtführung, die Komposition und die Tonalität der Farben in Dijkstras Fotografien laden dazu ein, in ihren Werken Parallelen zu den Alten Meistern zu entdecken. Dabei muss man festhalten, dass diese Ähnlichkeiten in der Komposition wie bei den „Beach Portraits“ zufällig sind und nicht von der Künstlerin aktiv verfolgt werden. Nichtsdestotrotz entsteht ein spannender Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der den Werken der Kunstgeschichte Aktualität verleiht und neue, einfühlsame Perspektiven ermöglicht – zum Beispiel, wenn wir gewisse Ähnlichkeiten zwischen Menschen aus dem 15. Jahrhundert und späten 20. Jahrhundert zu erkennen meinen.
Rineke Dijkstra hat an verschiedenen Stränden der Welt fotografiert, von den USA bis nach Osteuropa. Wieso hat die Künstlerin diesen internationalen Ansatz ausgewählt?
Die ersten „Beach Portraits“ entstanden in den Niederlanden. Schnell stellte sich Dijkstra die Frage, wie sich die Aufnahmen in anderen, nicht-westlichen Ländern unterscheiden könnten. Eine Frage, die Anfang der 1990er-Jahre, nur wenige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und vor der Globalisierung, sehr aktuell war. Darin steckt auch die Überlegung, welche gesellschaftlich und medial vermittelten Verhaltensmuster junge Heranwachsende erlernt haben und bereits vor der Kamera verkörpern. Wie sehr sind Kinder, die in kommunistischen Ländern aufgewachsen sind, von kapitalistischen Idealen geprägt – oder davon befreit? Wo liegen die Unterschiede und was verbindet die Porträtierten miteinander? Dijkstras Arbeiten zeigen, dass Jugendliche zwar von unterschiedlichen kulturellen Normen geprägt sein können, in den Übergangsphasen des Lebens jedoch universelle Unsicherheiten und Gemeinsamkeiten teilen – ein zentrales Thema in ihren Werken.
Die ersten „Beach Portraits“ sind vor über 30 Jahren entstanden. Wie würdest Du die Serie im Gesamtwerk der Künstlerin einordnen?
Die „Beach Portraits“ markieren zweifellos den internationalen Durchbruch von Rineke Dijkstra. Schnell haben sie sich damit im Bildergedächtnis eines sehr breiten Publikums verankert und gelten bereits heute als Schlüsselwerke der modernen Porträtfotografie. Die Frage nach Authentizität ist im digitalen Zeitalter der sozialen Medien und des omnipräsenten Internets aktueller denn je. Die „Beach Portraits“ dokumentieren als sensible Aufnahmen die Fragilität der Jugend in einer Weise, die heute, in einer Zeit digitaler Inszenierung und Selbstoptimierung, kaum noch möglich erscheint.
Gibt es etwas, das Dich in der Ausstellungsvorbereitung überrascht hat, Dir besonders in Erinnerung geblieben ist, oder worauf Du Dich besonders in der Ausstellung freust?
Was mich immer wieder überrascht, ist die Zeitlosigkeit dieser Fotografien und wie unmittelbar nah diese Personen uns entgegenblicken. Besonders berührt hat mich dabei, dass diese Heranwachsenden der 1990er-Jahre, in einem von Umbrüchen gezeichneten Zeitalter, durch Dijkstras schlichte, nüchterne Komposition am Strand über Jahre und Grenzen hinweg miteinander verbunden werden. Sie zielen letztendlich auf die Gemeinsamkeiten und nicht auf die politisch wie kulturell bedingten Unterschiede. Zugleich gelingt es Dijkstra, uns ohne große Gesten einzuladen, diesen Menschen mit Empathie zu begegnen und uns zu fragen: ‚Was hatten diese Menschen damals vor sich? Was haben sie bereits erlebt und wie habe ich mich damals gefühlt?‘
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