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Kein Gipfel zu hoch

Auch auf Reisen ließen sich Ottilie Roederstein und Elisabeth Winterhalter keine Grenzen setzen. Sie eroberten die höchsten Gipfel und weite Wüsten und überwanden dabei auch die geschlechtsspezifischen Normen ihrer Zeit.

Eva-Maria Höllerer — 11. August 2022

Am 29. August 1898 besteigen die Malerin Ottilie W. Roederstein und ihre Lebensgefährtin, die Ärztin Elisabeth Winterhalter, begleitet von Bergführern den 3158 Meter hohen Piz de la Margna in der Schweiz.

Ottilie W. Roederstein während der Rast auf dem Weg zum Gipfel des Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Ottilie W. Roederstein während der Rast auf dem Weg zum Gipfel des Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Elisabeth Winterhalter mit Bergführer auf dem Gipfel des Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Elisabeth Winterhalter mit Bergführer auf dem Gipfel des Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Elisabeth Winterhalter rastend bei Aufstieg auf den Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Elisabeth Winterhalter rastend bei Aufstieg auf den Piz de la Margna, Oberengadin, Schweiz, 28. August 1898, Fotografie

Der markante Gipfel, auch als „Wächter des Oberengadins“ bekannt, ragt hoch über der fantastischen Landschaft um den Silser See auf. Die Besteigung war – und ist auch heute noch – eine anstrengende und ernste alpinistische Herausforderung. Doch damit nicht genug: Nur wenige Tage später starteten die beiden zu einer weiteren Höhenbergtour. Nun ging es durch Schnee und Eis auf stolze 3594 Meter auf den Gipfel des Piz Glüschaint, dem höchsten Berg der benachbarten Sella-Gruppe.

Ausblick vom Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Ausblick vom Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Alpine Abenteuer

Die Bergtouren der beiden Frauen sind in zwei reich bebilderten Fotoalben gut dokumentiert. Die Aufnahmen zeigen, dass die beiden keine Anfängerinnen im Bergsteigen waren, sondern gut ausgerüstet. Sie erklommen die Berge mit festen Stiefeln, oft in Kniebundhosen und wenn nötig mit Gletscherbrille.

Ottilie W. Roederstein am Seil eines Bergführers beim Aufstieg auf den vergletscherten Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Ottilie W. Roederstein am Seil eines Bergführers beim Aufstieg auf den vergletscherten Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Diese Ausstattung war keineswegs üblich, Bergsportbekleidung für Frauen gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Allein Hosen zu tragen galt als skandalös. Bergsteigerinnen gingen damals meist in langen, schweren Röcken los oder versteckten die praktischeren Hosen darunter, spätestens wenn es zurück ins Tal ging.

Elisabeth Winterhalter mit Gletscherbrille am Seil eines Bergführers während des Aufstiegs auf den Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Elisabeth Winterhalter mit Gletscherbrille am Seil eines Bergführers während des Aufstiegs auf den Piz Glüschaint, Oberengadin, Schweiz, 3. September 1898, Fotografie

Für Ottilie Roederstein und Elisabeth Winterhalter war es sicher nicht die erste Unternehmung dieser Art. Vor allem Winterhalter scheint eine erfahrene Bergsteigerin gewesen zu sein. Sie war schon 1883 in der Sektion München des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins als Mitglied aufgenommen worden. Von der Bergtour im Oberengadin  berichtete sie ihrer Frankfurter Freundin Anna Edinger die wiederum mit einer Postkarte antwortete und mahnte:

„Ich freue mich, daß Dich der ‚schwierige Piz‘ (den Namen kann ich sowie verschiedenes andere nicht lesen) so erfrischt hat. […] I am glad, when I have you safe here again – think of Tilly slipping! She and I are not as fit for this sport as you. […]“ [Ich bin froh, wenn ich Dich sicher wieder hier habe – stell’ Dir vor Tilly rutscht aus! Sie und ich sind nicht so fit für diesen Sport wie Du.]

(Anna Edinger an Elisabeth Winterhalter, Frankfurt am Main, 5. September 1898, Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum, Sig. OR 25)

Aber auch Ottilie Roederstein, die in Zürich aufgewachsen war, kannte die Bergwelt durch Exkursionen mit ihrem Vater oder von Sommeraufenthalten in Sennhütten, die sie zum Malen in der freien Natur nutzte. Dies waren für das 19. Jahrhundert ungewöhnliche Freiheiten, da der streng beschränkte und überwachte Alltag Frauen kaum die Möglichkeit bot, der häuslichen und familiären Kontrolle zu entkommen.

Ottilie W. Roederstein beim Malen in den Bergen, Bergli (), Schweiz, Juli 1885, Fotografie

Ottilie W. Roederstein beim Malen in den Bergen, Bergli (?), Schweiz, Juli 1885, Fotografie

Bergsteigen als emanzipatorisches Statement

Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich der Alpentourismus und das Bergsteigen langsam in vermögenden und akademischen Kreisen in ganz Europa als Mode etabliert. Zumeist suchte man jedoch gut erreichbare und auf den Komfort der Gäste eingerichtete Luftkurorte auf, um sich in der Natur vom hektischen Leben in den industrialisierten Städten zu erholen. Die „Alpinisten“ kamen hingegen in die Berge, um abseits der ausgetretenen Touristen-Pfade bisher unerreichte Gipfel als sportliche Herausforderung zu erstürmen. So wurde das Bergsteigen zu einem Mittel der Definition bürgerlich-männlicher Identität. Es war geprägt vom Leistungsgedanken, der sich in der Rivalität zwischen Einzelnen und im Zuge der erstarkenden Nationalismen auch im Konkurrenzkampf zwischen den Nationen äußerte.

Das Frauen-Bergsteigen wurde daher bis weit ins 20. Jahrhundert oft harsch kritisiert. Die Argumente der männlichen Kritiker ähneln dabei denen, die auch gegen Künstlerinnen und berufstätige Frauen im Allgemeinen ins Feld geführt wurden: Sie seien schon aufgrund ihrer „naturgegebenen“ physischen und psychischen Konstitution ungeeignet. Die körperliche Anstrengung – wie auch die geistige Anstrengung in Bezug auf Akademikerinnen –, führe bei Frauen zu irreversiblen gesundheitlichen Schäden, oder gar zur „Vermännlichung“. Auch der Vorwurf der Unsittlichkeit oder Unschicklichkeit traf alle nach Freiheit und Gleichberechtigung strebenden Frauen gleichermaßen, egal auf welchem Gebiet sie sich betätigten.

In einer Zeit also, in der es noch für Aufsehen sorgte, wenn eine Frau mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr, waren Ottilie Roedersteins und Elisabeth Winterhalters alpine Abenteuer mehr als eine bemerkenswerte bergsteigerische Leistung zweier Frauen: Es war ein Vordringen in eine der letzten Männerdomänen und der Versuch, sich gänzlich von dem traditionellen Rollenbild der häuslichen Ehefrau und Mutter zu befreien. Schon durch ihre erfolgreichen beruflichen Karrieren und die dadurch erreichte finanzielle Eigenständigkeit hatten die beiden Frauen diesen Weg gegen alle Widerstände eingeschlagen. Dass sie sich auch in ihrer Freizeit keine Grenzen setzen ließen, zeigt, mit welcher Konsequenz sich die Malerin und die Ärztin in allen Bereichen des Lebens über die geschlechtsspezifischen Normen ihrer Zeit hinwegsetzten.

Tourismus und Mobilität

Technische Erfindungen wie die Eisenbahn führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer enormen Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur und trugen dazu bei, dass es zumindest für die bürgerlichen Schichten immer einfacher und bequemer wurde zu reisen. Dass auch Frauen an dieser neuen Form der Bewegungsfreiheit teilhaben wollten, kollidierte jedoch allzu oft mit den traditionellen Moralvorstellungen. Für bürgerliche Frauen galt lange eine Begleitpflicht, sodass es noch in den 1890er-Jahren unüblich war, dass sie sich alleine außerhalb des häuslichen Bereichs bewegten. Gingen sie unbegleitet auf Reisen, mussten sie Belästigungen und Kompromittierung fürchten.

Ottilie Roederstein und Elisabeth Winterhalter ließen sich davon nicht abschrecken, sondern kosteten die erkämpfte Bewegungsfreiheit stets und bis ins hohe Alter voll aus. Das hier nur ausschnitthaft gezeichnete Bild der Reiseaktivitäten Roedersteins sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie als Malerin schon von Berufs wegen viel unterwegs war, etwa um Porträtaufträge zu erledigen oder an Ausstellungen teilzunehmen. Ihr bevorzugtes Verkehrsmittel war dabei der Zug. Auch vor einer Nacht im Schlafwagen nach Paris oder Zürich schreckte die Künstlerin nicht zurück.

Sicht auf Florenz, Italien, undatiert, vermutlich 1895, Fotografie

Sicht auf Florenz, Italien, undatiert, vermutlich 1895, Fotografie

Aus der im Roederstein-Jughenn-Archiv bewahrten Korrespondenz der Malerin und anderen Quellen lassen sich eine Vielzahl von Reisen innerhalb Deutschlands, in die Schweiz, nach Italien, Spanien, Belgien, England und vielfach nach Paris rekonstruieren. Die Häufigkeit mit der sich Ottilie Roederstein auf Reisen begab, ist für eine Frau im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert eher ungewöhnlich. Diese Form der Mobilität war ein großes Privileg, schon, weil sie mit hohen Kosten verbunden war.

Reise durch Nordafrika

Im November 1913 unternahmen Roederstein und Winterhalter gemeinsam mit ihrer Pariser Freundin Jeanne Smith eine mehrwöchige Reise durch Tunesien und Algerien. Die Frauen waren häufig gemeinsam unterwegs, um den bereits genannten Schwierigkeiten zu entgehen. Smith war Amateurfotografin und hielt die besuchten Orte in zahlreichen, fantastischen Aufnahmen fest, die sich sowohl im Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum, als auch im Nachlass Smiths erhalten haben. Die Zusammenstellung der Bilder in Alben und deren Beschriftungen dokumentieren die Reiseroute der Frauen: Sie starteten in Marseille und setzten per Schiff nach Tunis über.

Fotoalbum der Reise durch Tunesien und Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Bd. 1

Die Fotografien dokumentieren die Gassen und Bauwerke der Stadt sowie ihre Bewohner. Die Frauen besuchten unter anderem einen Souk, die historische Stätte Karthago und den Hafen Sidi Bou Saïd. Von dort ging es weiter nach Kairouan, Sousse, Sfax, Gabès und zurück nach Sfax.

Jeanne Smith (l.) und Ottilie W. Roederstein (r.) auf Eseln reitend bei Gabès, Tunesien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Jeanne Smith (l.) und Ottilie W. Roederstein (r.) auf Eseln reitend bei Gabès, Tunesien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Dann reisten sie weiter nach Algerien, genauer nach Constantine. Die Stadt hat eine weitzurückreichende Geschichte und erhebt sich landschaftlich spektakulär über einer Schlucht am Fluss Rhumel. Das nächste Ziel war Biskra , um von dort aus mit einer Karawane Sidi Okba zu erreichen. Die Rückreise führte die Frauen nach El Kantara, die Ruinenstadt Timgad, Bejaia, Algir und schließlich zurück nach Marseille.

Elisabeth Winterhalter mit einem einheimischen Begleiter in Biskra, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Elisabeth Winterhalter mit einem einheimischen Begleiter in Biskra, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Ottilie W. Roederstein (l.) und Jeanne Smith (r.) auf Kamelen mit zwei einheimischen Führern in der Gegend um Biskra, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Ottilie W. Roederstein (l.) und Jeanne Smith (r.) auf Kamelen mit zwei einheimischen Führern in der Gegend um Biskra, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Elisabeth Winterhalter und Ottilie W. Roederstein in der Ruinenstadt Timgad, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Elisabeth Winterhalter und Ottilie W. Roederstein in der Ruinenstadt Timgad, Algerien, 22. November – 22. Dezember 1913, Fotografie

Von dieser vierwöchigen Reise sind keine Zeichnungen Roedersteins erhalten. Dies mag daran liegen, dass die Malerin diese Reise zusammen mit ihren beiden Freundinnen viel mehr im Sinne einer Kultur- denn als Künstlerreise unternommen hatte. Dafür sprechen auch die zahlreichen Aufnahmen von Land und Leuten. Sie folgten damit einer Mode, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert hatte. Touristische Luxusangebote wie der sogenannte „Orient-Express“, der schon ab 1883 zwischen Paris und Konstantinopel verkehrte, hatten Reisen in den Norden des afrikanischen Kontinents oder nach Vorderasien in großbürgerlichen Kreisen populär gemacht.

Tunesien und Algerien waren Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Teil des französischen Kolonialreichs. Die Lebens- und Verwaltungsformen waren dem französischen Vorbild angeglichen worden. Dies bedeutete zwar ein einfacheres Reisen für Europäer, ging aber mit der Unterdrückung der Bevölkerung und der Auslöschung einheimischer Sprachen und lokaler Bräuche einher. So spiegelt sich in dieser neu erwachten Reiselust des gehobenen europäischen Bürgertums auch ein Exotismus, der seine Wurzeln in der brutalen Kolonialherrschaft hat.

Für die drei Frauen muss die Reise dennoch mit einigen Strapazen verbunden gewesen sein. Sie bewegten sich per Kamel und Esel fort oder ließen sich mit einem offenen Automobil durch Wüstengegenden fahren ­– und das nicht ohne Pannen. Dass sie sich auch noch mit deutlich über 50 Jahren auf diese Art Reisen begaben, zeugt von ihrer großen Reiselust und Neugier, die nur vor dem Hintergrund der Einschränkungen, die sie in früheren Jahren erlebten, richtig einzuordnen ist.

Der Tempel von Philae, Assuan, Ägypten, Mai 1929, Fotografie

Der Tempel von Philae, Assuan, Ägypten, Mai 1929, Fotografie

Auch an ihrem 70. Geburtstag zog Ottilie Roederstein es vor, mit ihren Freundinnen auf eine knapp 1-monatige Mittelmeer-Rundreise – von Neapel bis über den Bosporus nach Jordanien, Jerusalem und Ägypten – zu gehen anstatt sich den üblichen Ehrerbietung der Hofheimer und Frankfurter Gesellschaft anlässlich dieses Jubiläums zu stellen.

Die Ruinen von Luxor, Ägypten, Mai 1929, Fotografie

Die Ruinen von Luxor, Ägypten, Mai 1929, Fotografie

Die abgebildeten Fotografien, Alben und Dokumente befinden sich im Roederstein-Jughenn-Archiv im Städel Museum, Frankfurt am Main.


Eva-Maria Höllerer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Kunst der Moderne am Städel Museum und hat sich als Co-Kuratorin der Roederstein-Ausstellung intensiv mit der Künstlerin und ihrem Werk beschäftigt.

Die Ausstellung „Frei. Schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein“ ist bis 16. Oktober 2022 im Städel Museum zu sehen.

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