Die Frankfurterin Maria Petrie ging im Herbst 1908 nach Paris, um als erste Schülerin Aristide Maillols Bildhauerei zu studieren. Neben ihrer künstlerischen Ausbildung tauchte sie dort in das pulsierende Studentenleben und die Pariser Kunstszene ein.
Unmittelbar nach ihrem Eintreffen in Paris schrieb sich Maria Zimmern, später verheiratete Petrie, an der neugegründeten Académie Ranson ein. Einige Wochen später berichtete sie ihrem Bruder euphorisch aus der französischen Hauptstadt:
Die Académie Ranson war kurze Zeit zuvor von einer Gruppe befreundeter Künstler gegründet worden, die sich Nabis nannte. Zunächst mit dem Ziel, den erkrankten Maler Paul Ranson und dessen Familie finanziell zu unterstützen. Doch die Bekanntheit der dort lehrenden Maler und Bildhauer wie Pierre Bonnard, Maurice Denis, Theo van Rysselberghe, Paul Sérusier, Édouard Vuillard, Félix Vallotton und Aristide Maillol machte die neu gegründete Kunstschule bald zu einem wichtigen Anziehungspunkt für junge Künstlerinnen und Künstler aus England, Deutschland, den USA und aus Frankreich.
Maria Zimmern wurde von ihrem Frankfurter Lehrer Joseph Kowarzik an die Pariser Privatakademie empfohlen. Seine Frau Pauline Kowarzik, selbst Malerin und eine Kennerin der modernen französischen Kunst, pflegte gute Kontakte nach Paris und hatte Werke von Denis, Sérusier und Gauguin für ihre Privatsammlung erworben.
Die junge Bildhauerin kam also nicht als Anfängerin nach Paris. Sie hatte bereits seit 1904/05 Anatomieunterricht an der Städelschule genommen und war von 1906 bis 1908 Schülerin in Kowarziks dortigem Meisterkurs für Bildhauerei. In ihrer Autobiografie berichtet die Künstlerin später, er sei zwar kein großer Künstler gewesen, jedoch ein „sehr anspruchsvoller und hervorragender Lehrer“ (Maria Petrie, Yesterday / Gestern, Autobiografie, Privatarchiv der Familie Zimmern).
So fand sich Maria Zimmern auch an der Académie Ranson schnell zurecht: Die Stile und Methoden der unterrichtenden Künstler unterschieden sich sehr. Für Anfänger konnte es daher verwirrend sein, ihrem Unterricht zu folgen. Fortgeschrittene Schülerinnen und Schüler profitierten jedoch von dieser anregenden Gleichzeitigkeit unterschiedlicher künstlerischer Vorgehensweisen und Theorien.
An der neuen Kunstschule war sie zunächst die einzige Schülerin des Bildhauers Aristide Maillols. Da das Atelier bei ihrer Ankunft noch nicht vollständig ausgestattet war, wirkte Maria selbst an dessen Einrichtung mit. Sie profitierte aber auch vom ungeteilten Interesse des Meisters an ihrer Arbeit. Maillol war zwar nur ein- bis zweimal pro Woche vor Ort, um zu unterrichten, doch seine Schülerin hatte die Möglichkeit, ihn auch in seinem privaten Atelier in Marly-le-Roi unweit von Paris zu besuchen und dort seine Werke zu studieren.
Die für Maillols Werke charakteristische Vereinfachung der Formen beeinflusste auch Maria Zimmern. Davon zeugt ihre wenige Jahre später entstandene Büste von Hilda Lust (1911), die sich heute in der Manchester Art Gallery befindet. Wie weit die Auseinandersetzung mit Maillols Werken tatsächlich ging, lässt sich heute nicht genau beurteilen, da das Schaffen von Maria Petrie bislang nicht systematisch aufgearbeitet wurde. Zudem sind nach heutigem Kenntnisstand kaum Skulpturen aus dieser frühen Phase ihrer Karriere erhalten geblieben.
Die Studentin arbeitete täglich fünf bis acht Stunden an der Académie Ranson und besuchte zusätzlich oft Abendkurse im Aktzeichnen an anderen Kunstschulen oder ergründete in den zahlreichen Galerien und Museen von Paris die zeitgenössische ebenso wie die alte Kunst. Darüber hinaus hörte sie Vorträge und Vorlesungen an der Universität, um sich intellektuell weiterzubilden.
Gleichzeitig genoss sie das freie und unbeschwerte Studentenleben in Paris:Zu ihren engsten Freunden in Paris zählte die US-amerikanische Pianistin Grace Ehrlich, mit der sie in einer Pension im Studenten- und Künstlerviertel Montparnasse wohnte. Auch der Frankfurter Bildhauer Harold Winter, den Maria Zimmern bereits aus ihrer Zeit an der Städelschule kannte, gehörte zu ihrem Freundeskreis. Der französische Maler Roger de la Fresnay studierte ebenfalls an der Académie Ranson. Er wurde ein treuer Begleiter Marias durch das Pariser Künstlerleben. Denn trotz der größeren Freiheit, die junge Frauen in der französischen Metropole genossen, konnten sie auch hier nur in Begleitung Cafés, Theater und dergleichen besuchen. In ihrem zweiten Jahr in Paris, 1909, stand Maria Zimmern ihm Porträt.
Rückblickend bemerkte die Künstlerin, dass es ihrer Mutter hoch anzurechnen sei, dass sie ihrer Tochter ein eigenständiges Leben in Paris zutraute, zu einer Zeit, als Mädchen normalerweise noch sehr viel behüteter aufwuchsen.
Der belgische Maler Theo van Rysselberghe war einer von Maria Zimmerns Lehrern an der Académie Ranson und wurde in den folgenden Jahren zu einem wichtigen Freund und Ratgeber. Diese Künstlerfreundschaft spiegelt sich im Prozess des gegenseitigen Porträtierens wider. Maria selbst schrieb am 30. November 1909: „Nächste Woche fange ich van Rysselberghe’s Portrait an u. werde von ihm zu gleicher Zeit gemalt. Wird sicher interessant.“
Van Rysselberghe schuf insgesamt zwei Porträts von Maria Zimmern. Das erste muss während der gemeinsamen Porträtsitzungen um 1909/10 entstanden sein. Es befand sich zunächst für einige Zeit im Atelier des Malers, bevor es von den Musées Royaux des Beaux-Arts in Brüssel angekauft wurde. Doch das Gemälde gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen. Im Sommer 1911 stand Maria für „Zimmerchen No. 2“, wie Van Rysselberghe ihr zweites Bildnis nannte, Modell. Es befand sich bis Ende der 1940er-Jahre im Besitz der Bildhauerin.
Die Porträtbüste, die wiederum Maria Zimmern von ihrem Mentor schuf, wurde mehrfach international ausgestellt. Sie fand die Bewunderung des Porträtierten sowie seiner Künstlerkollegen. 1912 vermachte Maria Zimmern das in Stein gehauene Bildnis Van Rysselberghe, der es im Garten seines Wohnsitzes in St. Clair in Südfrankreich aufstellte. Trotz intensiver Recherchen im Zuge der Ausstellung „Städel | Frauen. Künstlerinnen zwischen Frankfurt und Paris um 1900“ bleibt das Werk bis heute verschollen.
Nach Abschluss ihres Studiums kehrte Maria Zimmern zurück nach Frankfurt und arbeitete zunächst selbständig in einem Atelier im Kettenhofweg. Sie hatte bereits einige wichtige Ausstellungserfolge erzielt: 1910 stellte sie in Brüssel mit der Gruppe „La Libre Esthétique“ aus, 1911 zusammen mit Vertretern der Nabis in der Galerie Druet in Paris und 1913 im Frankfurter Kunstsalon Ludwig Schames.
Im gleichen Jahr heiratete sie den englischen Rugby-Nationalspieler und Lehrer Eric Steinthal und ließ sich mit ihm zunächst in Durham, später in Ilkley bei Manchester nieder. Die Abgeschiedenheit von der Kunstszene in der englischen Kleinstadt, die Pflichten als Ehefrau und Mutter erschwerten es Maria Petrie, ihre Karriere als professionelle Bildhauerin vorabzutreiben. Sie führte jedoch ein weltoffenes Haus, in dem zahlreiche Freunde und Intellektuelle aus verschiedenen Ländern verkehrten. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm ihr Ehemann den Mädchennamen seiner Mutter an, um einer Benachteiligung durch seine deutsche Abstammung zu entgehen. Maria Steinthal, geborene Zimmern, nannte sich von nun an Maria Petrie.
Unter diesem Namen führte sie in den 1920er-Jahren wieder vermehrt bedeutende Porträtaufträge der englischen Gesellschaft aus. Ihre Arbeiten wurden in dieser Zeit unter anderem in Ausstellungen in Manchester und London gezeigt. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit widmete sich Maria Petrie auch der Kunstpädagogik. Ihr erstes Buch auf diesem Gebiet „Modelling for Children“ erschien 1936, später wandte sie sich mit „Art and Regeneration“ (1946) dem noch jungen Feld der Kunsttherapie zu.
Ende 1947 wanderte die Künstlerin mit ihrem Mann nach Kalifornien aus. Aus diesem Anlass veräußerte das Ehepaar Teile ihres Besitzes, darunter vermutlich auch Kunstwerke Petries. Bis zu ihrem Tod 1972 arbeitete Maria Petrie in den USA als Bildhauerin und nahm an Ausstellungen teil. Einige ihrer Werke befinden sich heute in der Manchester Art Gallery, der National Portrait Gallery in London sowie dem Smart Museum of Art der University of Chicago. Weitere gelangten höchstwahrscheinlich in Privatbesitz, andere sind bis heute verschollen.
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