Was verraten Beckmanns Zeichnungen über den Künstler? Die Kuratoren der neuen Städel-Ausstellung berichten im Interview von der Auswahl der Werke, überraschenden Funden während der Arbeit am Werkverzeichnis und davon, wie sich Beckmanns Blick auf die Welt in seinen Zeichnungen verdichtet.
Die Ausstellung zeigt nicht nur Zeichnungen, sondern auch farbige Arbeiten, Druckgrafiken und Gemälde Beckmanns. Nach welchen Kriterien haben Sie die Werke ausgewählt?
Regina Freyberger: Das zeichnerische Œuvre von Max Beckmann ist ebenso groß wie vielfältig. Er hat in allen Lebensphasen gezeichnet, hielt Gesehenes und Erlebtes fest, überlegte Kompositionen und erfand neue Bildideen. Unsere Ausstellung setzt in den Jahren der frühen Berliner Erfolge an und verfolgt die Entwicklung des Künstlers bis zu seiner letzten Zeichnung, die er in New York geschaffen hat. Zu sehen sind dabei neben Skizzen, Studien oder Entwürfen auch viele autonome Zeichnungen, die ganz selbstverständlich bildmäßigen Anspruch haben. Hier durften auch die Aquarelle nicht fehlen. Und um darüber hinaus aufscheinen zu lassen, wie eng Malerei, Druckgrafik und Zeichnung im Schaffen Beckmanns zusammengehen, zeigen wir an einzelnen ausgesuchten Stellen auch Gemälde und Druckgrafiken. Der Maler Beckmann rückt so anders in den Blick: unmittelbarer, konzentrierter, aber immer noch genauso bildgewaltig.
Was können Besucher anhand seines zeichnerischen Werks über den Künstler erfahren, das in den Gemälden vielleicht weniger sichtbar ist? Welche Themen ziehen sich durch Beckmanns zeichnerisches Schaffen?
Hedda Finke und Stephan von Wiese: Die Zeichnung ist zunächst, so auch für Beckmann, ein Mittel der unmittelbaren Aneignung seiner Umgebung und somit für uns Zeugnis seiner feinsinnigen Beobachtungsgabe und Wirklichkeitserfahrung. Die Gemälde entstehen im Atelier, oft über einen längeren Zeitraum, sind das Resultat eines Abstraktionsprozesses. In diesen können wiederum Entwürfe, Kompositionsskizzen und Figurenstudien – weitere Funktionen der Zeichnung – Einblicke und somit Aufschluss über die Entstehungsgeschichte der Bilder geben.
Ab Mitte der Zwanzigerjahre wird die Zeichnung bei Beckmann zunehmend bildhaft-autonom, womit sich auch seine Themen wandeln. So finden wir insgesamt weniger Szenen aus dem öffentlichen Leben, die er z. B. in Cafés, Hotels und Varietés skizzierte. Eine Konstante im Werk sind dagegen Porträtstudien, darunter immer wieder Selbstbildnisse.
Sie haben über viele Jahre das dreibändige Werkverzeichnis der Zeichnungen Max Beckmanns erarbeitet. Wie sind Sie an dieses Konvolut von weit über tausend Blättern herangegangen?
Hedda Finke und Stephan von Wiese: Die umfangreichen Recherchen haben nahezu zehn Jahre in Anspruch genommen. Soweit wie möglich haben wir die Werke aufgespürt und im Original in öffentlichen und privaten Sammlungen untersucht. Der überwiegende Teil der Werke befindet sich heute in Deutschland, den Niederlanden und den USA. Archivalien, insbesondere die Fotosammlung im Max Beckmann Archiv in München, Sammlungs- und Auktionslisten, frühere Buchpublikationen und Ausstellungskataloge bildeten das Grundgerüst, auf dem unsere umfangreiche Korrespondenz mit Ansprechpartnern in aller Welt aufbaut. Auch die Kontakte zum Kunsthandel, in dem regelmäßig unzugängliche Werke aus Privatsammlungen ans Licht kommen, ist aus der Arbeit nicht wegzudenken.
Zudem war die Unterstützung der Enkeltochter des Künstlers, Mayen Beckmann, Voraussetzung für das Projekt und der kollegiale Austausch innerhalb der Beckmann-Forschung immer bereichernd.
Welche Entdeckungen haben Ihren Blick auf Beckmann im Verlauf der Arbeit am Werkverzeichnis besonders verändert oder geschärft? Gab es Überraschungsmomente?
Hedda Finke und Stephan von Wiese: Fast jede Zeichnung bietet auf ihre Weise eine Überraschung, wenn man sie unter die Lupe nimmt, was die Arbeit an einem Werkverzeichnis buchstäblich erfordert. Oft eröffnen sich bereits durch eingehende Betrachtung und Vergleich neue Werkbezüge, aber auch die Dokumentation der Papiere, der Wasserzeichen, Beschriftungen und schließlich die Auswertung der Quellen tragen dazu bei, ein Werk zu kontextualisieren, zu lokalisieren oder zu datieren. Es wurde immer wieder deutlich, dass man Beckmanns eigenen Datierungen, die er oft erst nachträglich anbrachte oder auf ein später dargestelltes Ereignis bezog, nicht blind vertrauen darf. Unerwartet ließen sich einige Zeichnungen auf fotografische Vorlagen zurückführen, die Beckmann aber auf ganz eigene Weise interpretierte. Man lernt durch die Zeichnungen die Welt mit Beckmanns Augen neu zu sehen.
Welchen Stellenwert nehmen die Werke, insbesondere die Zeichnungen Beckmanns, innerhalb der Städel-Sammlung ein? An welchen Blättern lässt sich die besondere Beziehung zwischen Beckmann und dem Städel Museum für Sie exemplarisch ablesen?
Regina Freyberger: Max Beckmann gehört zu den wichtigsten Positionen der klassischen Moderne im Städel Museum. Unser einstiger Direktor Georg Swarzenski setzte schon 1918 diesen Schwerpunkt. Allerdings sind von dieser ersten Sammlung durch die Aktion „Entartete Kunst“ nur wenige Zeichnungen erhalten: Die zwei Skizzenblätter und das Porträt des Landsturmmanns Ernst Pflanz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zeigen wir in der Ausstellung. Die damals beschlagnahmten Werke „Rimini“ (1927) und „Closet“ (1922) konnten wir zudem leihen.
Unsere heutigen außergewöhnlichen Druckgrafik- und Zeichnungsbestände verdanken wir aber im Kern der Sammlung Ugi und Fridel Battenbergs. Sie ist zugleich Dokument der engen Freundschaft mit dem Künstler, der Fridel Battenberg eindringlich porträtierte oder die Freunde beim Mittagsschlaf festhielt. Viele der Druckgrafiken tragen außerdem persönliche Widmungen. Seit dem Ankauf dieser Sammlung 1949 zählt das Städel Museum weltweit wieder zu den bedeutenden musealen Beckmann-Sammlungen, und dies erst recht, seitdem uns wichtige Werke aus der Sammlung Karin & Rüdiger Volhard als Dauerleihgaben anvertraut wurden.
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