Annegret Soltau gilt als Pionierin feministischer Fotografie und Body Art in Deutschland – lange Zeit ein Geheimtipp, heute endlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Städel Museum zeigt eine Retrospektive, die ihr kraftvolles, kompromissloses Werk neu beleuchtet. Künstlerin und Kuratorin berichten von ihrer intensiven Zusammenarbeit und einem Werk, das bis heute berührt und herausfordert.
Annegret Soltau zählt zu den Pionierinnen feministischer Fotografie und Body Art in Deutschland – dabei war sie lange ein Geheimtipp. Was macht ihr künstlerisches Schaffen so besonders?
Svenja Grosser: Annegret Soltaus Werk fokussiert sich auf die weibliche Existenz. Wie viele Künstlerinnen ihrer Zeit nutzt sie ihren eigenen Körper als Medium, um mit fotografischen Selbstporträts künstlerische sowie gesellschaftliche Fragestellungen zu erkunden. Anstatt sich jedoch zu maskieren oder in allgemeingültige Rollen zu schlüpfen, präsentiert sie ihren eigenen Körper und den ihrer engsten Angehörigen ganz unverfälscht. Durch die Bearbeitung ihrer Fotografien mit Nähgarn hat sie eine einzigartige Technik entwickelt. So schafft sie aus den Porträts Werke, die über das rein Individuelle hinausgehen. Dies bildet für mich den Kern ihrer Arbeit: Sie bleibt authentisch und schafft gleichzeitig Projektionsflächen für gesellschaftliche Themen, die über die Jahrzehnte hinweg relevant bleiben.
Warum ist jetzt der richtige Moment für eine große Retrospektive der Künstlerin?
Svenja Grosser: Lange wurde ihr außergewöhnliches Werk kaum beachtet. Sie war ihrer Zeit voraus, indem sie beispielsweise früh das Thema Mutterschaft in all seinen Facetten beleuchtete. Ihr ungeschönter Blick auf den menschlichen Körper führte sogar zu Zensur in Deutschland, während sie international Anerkennung fand – etwa als Kampagnenmotiv bei einer bedeutenden feministischen Ausstellung in den USA und Kanada. Mittlerweile sind ihre Werke fester Bestandteil wichtiger Ausstellungen zum Thema Mutterschaft und werden von nationalen sowie internationalen Institutionen erworben. Es ist höchste Zeit, Annegret Soltaus Gesamtwerk in einer Retrospektive gebührend zu würdigen.
In Ihrer Kunst verbinden Sie Fotografie, Nadel und Faden – eine Technik, die in den 1970er-Jahren radikal neu war. Wie haben Sie diese außergewöhnliche Formensprache entwickelt und was bedeutet der Faden heute noch für Sie?
Annegret Soltau: Der Faden bedeutet für mich eine Art Lebens-Faden, gleichzeitig ist er aber auch mein Werkzeug und zieht sich durch alle Arbeitsphasen hindurch. Leben und Kunst werden durch den Faden – ein handelsübliches Nähgarn – miteinander verbunden. Erstmals als haptisches Material eingesetzt habe ich ihn 1975 bei meinen frühen Fotovernähungen, die ich in Vorbereitung für meine Performance „Permanente Demonstration“ (1976) anfertigte. Bei der Performance umschnürte ich Personen mit einem schwarzen Garn und verband sie so miteinander. Später habe ich den Faden dafür genutzt, um Fotofragmente zu vernähen.
Seit über fünf Jahrzehnten setzen Sie sich in Ihrer Kunst kompromisslos mit Körper, Identität und gesellschaftlichen Normen auseinander. Wie hat sich Ihr Blick auf Ihr eigenes Werk über die Jahre verändert?
Annegret Soltau: Nach all den Jahren kann ich erahnen, warum ich so kompromisslos mit mir umgegangen bin; es hat mich einfach befreit. Dabei bin ich immer von mir, meinem Leben und meinem Körper ausgegangen, um gesellschaftliche Normen zu hinterfragen und neue Perspektiven zu eröffnen. Diesem Ansatz bin ich treu geblieben. Er macht zwar verletzlich, besteht aber in seiner Nahbarkeit so auch über die Jahrzehnte hinweg.
Annegret Soltaus Arbeiten wurden immer wieder teilweise zensiert oder als „zu provokant“ empfunden. Inwiefern beeinflusste Zensur die Rezeption ihrer Werke und wie wird das in der Ausstellung aufgegriffen?
Svenja Grosser: Tatsächlich wurde Soltaus Werk – insbesondere die Arbeit „generativ – Selbst mit Tochter, Mutter und Großmutter“ (1994) – mehrfach zensiert, zuletzt im Jahr 2011. Ihre Werke wurden aus Ausstellungen genommen, verhüllt oder kurz vor Druck aus Publikationen entfernt. Dies schränkt nicht nur die Reichweite ihrer Kunst ein, sondern vermittelt auch ein verzerrtes Bild ihrer Intentionen. Soltau wollte nie schockieren, auch wenn ihre Werke tief berühren können. Die Medien berichteten häufig mehr über den Skandal der Zensur als über den eigentlichen Inhalt ihrer Bilder. In der Ausstellung benennen wir die Zensurfälle und versuchen, den Kontext zu beleuchten, der hinter diesen Entscheidungen steht, wie beispielsweise die vorgeprägte Sicht auf den alternden weiblichen Körper. Letztlich sollen die Besucherinnen und Besucher jedoch die Möglichkeit haben, sich ein eigenes und unvoreingenommenes Bild von Soltaus Kunst zu machen. Es geht um den Dialog, den jede Person mit den Kunstwerken führen kann – unabhängig von Wertungen. Soltaus Kunst steht dabei im Mittelpunkt.
Die Ausstellung wurde in enger Zusammenarbeit zwischen Ihnen konzipiert. Wie haben Sie diesen Prozess erlebt – gab es besonders schöne Momente?
Annegret Soltau: Besonders schön an dieser Zusammenarbeit ist, dass ich mich in dem, was ich mache und gemacht habe, verstanden und akzeptiert fühle. Es ist eine besondere Erfahrung, dass gerade die jüngere Generation, wie hier die Kuratorin und ihr Team, meine Bilder in einem ganz anderen Licht sehen. Das empfinde ich als erfüllend.
Svenja Grosser: Mein Team und ich haben über drei Jahre an dem Projekt zusammengearbeitet und viele Stunden in Annegrets wunderbarem Haus mitten im Wald verbracht. Ihre Erzählungen aus der Zeit der 1970er-Jahre, aber auch ihr unerschütterlicher Wille, trotz aller Widerstände Künstlerin zu werden, nie aufzugeben und sich treu zu bleiben, waren für mich sehr inspirierend und werden noch lange nachhallen. Dass jetzt alles zusammengekommen ist und wir das Endergebnis unseres Projektes endlich in Form der Ausstellung sehen, ist ein ganz besonderer Moment, über den ich mich sehr freue!
Am Freitag, dem 9. Mai 2025 findet Städel Invites statt: Nach einem Gespräch mit Svenja Grosser präsentiert Annegret Soltau ihre Performance „Permanente Demonstration“. Kurzführungen in deutscher und englischer Sprache laden ein, die Sonderausstellung zu entdecken. Drinks, Food und ein DJ-Set runden den Abend ab. Tickets sind im Online-Shop erhältlich. Restkarten an der Abendkasse, Einlass ab 18.30 Uhr, Beginn 19 Uhr.
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