Das Gemälde ist eine Ikone des Städel – sein Schöpfer den Wenigsten ein Begriff. Über die kontrastierende Popularität von Werk und Künstler – und die Frage, ob Tischbein wirklich nicht rechts von links unterscheiden konnte.
Wenn Popularität ein Qualitätskriterium ist, dann handelt es sich bei Leonardos „Mona Lisa“ zweifellos um ein sehr gutes Gemälde. Dem wird niemand widersprechen. Anders verhält es sich bei Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins Porträt „Goethe in der römischen Campagna“ von 1787 aus dem Städel Museum – und das, obwohl nur wenige Gemälde aus deutschen Museen so bekannt sind wie dieses.
Gelangt man über den Flughafen in die Stadt, begegnet man schon am Terminal 1 in der Goethe-Bar einer dem Bild nachempfundenen monumentalen Gipskopie des Dichters. In Frankfurt selbst ist das Motiv als Poster, auf T-Shirts, Tassen, Tüchern oder als Comicfigur zu haben. Die Beliebtheit des Gemäldes zeigt sich auch in der Präsentation im Museum: An der zentralen Stirnwand des ersten Stockwerks hängend, nimmt er die Besucher in Empfang.
Die Omnipräsenz der Darstellung steht in merkwürdigem Kontrast zu der geringen Popularität ihres Schöpfers, der heute nur noch Wenigen ein Begriff ist. Wie sehr der Künstler hinter dem Erfolg dieses einen Gemäldes verschwindet, zeigt sich auch daran, dass sein Name mittlerweile so fest mit dem Werk verbunden ist, dass er in einem Online-Lexikon als „Goethe-Tischbein“ bezeichnet wird. Der Künstler, geboren 1751 in Haina, zählt nicht zu den ganz Großen seines Faches. Merkwürdig unbeholfen und steif wirken viele Porträts des Oldenburger Hofmalers, und auch seine Landschaften und Stillleben bleiben leblos.
Während viele Kunsthistoriker in dem Bild die ideale Verkörperung des Dichters erkennen, sehen andere vor allem ein schlecht gemaltes, nicht vollendetes Gemälde, das seine Bedeutung aus der hemmungslosen Überhöhung des Dargestellten bezieht. Erst in jüngerer Zeit rückten die anatomischen Merkwürdigkeiten der Figur in den Fokus des Interesses.
Kaum ein Beitrag kommt ohne den Hinweis aus, dass Goethes linkes Bein unnatürlich lang scheint und dass nicht nachvollziehbar ist, wie beide Beine unter dem Tuch mit dem Torso verbunden sind. Vollends rätselhaft sind die zwei linken Füße des Dichters – was sich nicht nur im Schuhwerk, sondern auch in ihrer Haltung zeigt. War Tischbein wirklich ein so schlechter Maler, dass er nicht imstande war, einen linken und einen rechten Fuß zu malen? Ein vergleichbarer Fehler findet sich in keinem seiner anderen Bilder, warum ausgerechnet hier, an so prominenter Stelle?
Begonnen hat Tischbein seine Arbeit während Goethes erster Italienreise im Oktober 1786 in Rom, als die beiden sich eine Wohnung am Corso teilten. Neun Monate später zog der Maler nach Neapel, wohin er das angefangene Bild mitnahm. Als er 1799 die Stadt verlassen musste – die Franzosen hatten Neapel eingenommen –, blieb das nicht vollendete Gemälde zurück. Die Freundschaft der beiden bestand da schon lange nicht mehr.
Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass sich der Farbauftrag innerhalb der Darstellung erheblich unterscheidet. Während Tischbein den Kopf, Hut und Mantel mit großer Sorgfalt und in mehreren Arbeitsgängen differenziert ausgeführt hat, legte er Boden, Landschaft und Himmel mit einem dünnen Farbauftrag an, durch den die Grundierung durchschimmert. Tischbein hat über einen längeren Zeitraum an dem Werk gearbeitet.
Seine Zeitgenossen äußerten sich zu dem unfertigen Bild, doch keiner von ihnen erwähnte das Kuriosum der linken Füße, das auch in keiner der Entwurfsskizzen auftaucht. Es liegt nahe, dass dieser Fehler, der im Gegensatz zu der kompositorischen Schwäche der überlangen Beine, leicht hätte korrigiert werden können, nicht von Tischbeins Hand stammt: In dieser unteren Bildpartie ist nur der – eigentlich rechte – Fuß detailliert ausgeführt; zudem setzt er sich durch einen gut sichtbaren, hellen Rand vom Boden ab.
Um Kopf, Hände und den linken Fuß sind dagegen auch die umgebenden Flächen in mehreren Schichten angelegt und fügen sich in das Bild ein. All dies deutet darauf hin, dass nach Tischbeins Abreise aus Neapel eine fremde, unerfahrene Hand sich an die Vollendung dieses kleinen, doch für die Gesamtwirkung des Bildes wichtigen Details machte und kurzerhand den bereits vorhandenen linken Fuß kopierte.
Damit ließe sich erklären, warum die Pinselführung in diesem Bereich weniger ausdifferenziert ist, wie auch Stephan Knobloch, Chefrestaurator des Städel Museums, bestätigt. Während den von Tischbein gemalten, linken Schuh eine in ihrer Struktur nachvollziehbare Schleife ziert, genauso wie am rechten Hosenbein, ist bei dem später gemalten Pendent nur ein merkwürdiges Durcheinander zu sehen. Zudem fehlt dem Fuß das Volumen. Die auf dem dunklen Schuhwerk mit einigen hellen Strichen angedeuteten Lichtreflexe sind wahllos verteilt und erzielen kaum den gewünschten Effekt. Da der zweite Fuß aber nur wenige Jahre nach dem Entstehen des übrigen Bildes gemalt wurde, zeichnen sich die Ergänzungen nicht in den vorhandenen Infrarot- und Röntgenaufnahmen ab.
Weil Tischbein nur wenige seiner Werke mit nach Deutschland nehmen konnte, wurden ihm bis 1810 die meisten Arbeiten nachgeschickt. Das Goethe-Porträt war nicht darunter. Wahrscheinlich wurde das Gemälde nach Tischbeins Abreise aus Neapel von einem Laienmaler in den heutigen Zustand gebracht und dann verkauft. Ein einfüßiges Dichterporträt – so berühmt Goethe auch war – hätte nur schwerlich einen Abnehmer gefunden.
Vermutlich gelangte das Bild in den Besitz des in Neapel ansässigen Bankiers und dänischen Konsuls Christian Hermann Heigelin. Als das Porträt 1887 als Geschenk von Adèle von Rothschild in das Städel kam, hatte der Goethe-Kult einen Höhepunkt erreicht. Die gesammelten Schriften Goethes waren erschienen, sein Werk gehörte zum Lehrstoff an Gymnasien und mehrere Biographien verklärten ihn zum Genie.
Es ist anzunehmen, dass nicht nur Goethe, sondern auch Tischbein die Darstellung mit den zwei linken Füßen nie gesehen hat – und sie aller Wahrscheinlichkeit nach brüsk abgelehnt hätte. Nichtsdestotrotz macht der Kontrast von Tischbeins hemmungsloser Schwärmerei für das Dichter-Idol und der eklatanten handwerklichen Schwäche des Gemäldes, die im Widerspruch mit der Überhöhung des Helden steht, die besondere Qualität des „Goethe in der Campagna“ aus. Während in Paris im Louvre über das unergründliche Lächeln von „Mona Lisa“ gegrübelt wird, sind es im Frankfurter Städel Museum die zwei linken Füße Goethes, die den Besucher zum Rätseln bringen.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.