Zwischen den höchsten christlichen Feiertagen lohnt sich ein Blick auf Emil Noldes religiöse Visionen. Unser Bild des Monats April – „Christus in der Unterwelt“ – gehört zu jenen Gemälden biblischen Inhalts, die der Künstler ab dem Jahr 1909 gefertigt hat und die ihn zum Skandalkünstler machen sollten. Das Werk ist noch bis zum 15. Juni 2014 in der Nolde-Retrospektive im Städel zu sehen.
Noch ist Jesus nicht auferstanden. Nach seiner Grablegung ist er ins Reich des Todes hinabgestiegen – so heißt es im christlichen Glaubensbekenntnis und so stellt es Emil Nolde (1867–1956) auf seinem Gemälde „Christus in der Unterwelt“ im Jahr 1911 dar. Auf einen Blick wird deutlich: Mit den traditionellen Darstellungen von Heiligen haben Noldes Bilder nichts zu tun. Der expressionistische Künstler wählte zwar klassische Themen der christlichen Ikonografie, hinterfragte ihre Darstellung aber grundsätzlich. Von seinen zwischen den Jahren 1911 und 1912 entstandenen religiösen Gemälden wählte der Maler acht Bilder aus, die er im Jahr 1912 um eine Mitteltafel zum großen Polyptychon „Das Leben Christi“ zusammenfügte, das ebenfalls in der Städel-Retrospektive zu sehen ist. „Christus in der Unterwelt“ entspricht dem Format jener acht Leinwände und ist im selben Zeitraum entstanden, fällt aber aufgrund des Querformats aus der Reihe. Nicht einem idealisierten Naturvorbild gehorchen, sondern den Emotionen der wiedergegebenen Figuren einen Ausdruckswert zuschreiben – dies war das erklärte Ziel des Künstlers. Seine gestalterische Maxime ist an unserem Bild des Monats nachvollziehbar.
Jesus ist als Ruhepol inmitten der gehässigen Fratzen eines protestantischen Pfarrers und eines Mönchs dargestellt. Von ihm unbeachtet bleibt die aggressive Drohgebärde eines pelzigen Teufels, dessen Haupt ein gelbgrünes Horn schmückt. Keifend und seinen blauen Ziegenbart nach oben reckend gibt ein weiterer Dämon dem ersten Rückendeckung. Über die Köpfe bereits erleuchteter Seelen blickt der Sohn Gottes dem Betrachter entgegen.
Die Höllenszene bestimmt schwefliges Grün. Komplementär dazu ist nicht nur die rote Haut der teuflischen Dämonen, sondern auch Jesus rotes Haar, sein violetter Mantel und die rötlich leuchtenden Augen. Die befreiten Seelen wirken als wippten sie im Takt eines geheimen Rhythmus, der dem Gemälde inne wohnt und alle Formen ergriffen hat. Eine zentralperspektivische Logik ist nicht erkennbar – im Gegenteil: die Figuren sind eng komponiert und in ihren Gesten auf den Heiland ausgerichtet. Dessen Kopf wird beschnitten durch den oberen Bildrand – ein unerhörter Kunstgriff. Grelle Farben, eigenwillige Figurendarstellungen und subjektive Interpretation des Geschehens behielt Nolde nicht nur Höllendarstellungen vor. Seine religiösen Bilder wurden zu Skandalbildern.
Ein Schelm, wer denkt, Nolde könnte sich den Themen aus strategischen Gründen zugewendet haben, befreiten ihn die kontroversen Debatten doch vom unliebsamen Ruf des Blumen- und Landschaftsmalers: „Wenn Emil Nolde biblische Historienbilder oder Porträts malt, ergeben sich aus seiner Farbenanschauung […] höchst peinliche Dissonanzen. Seine religiöse Epik ist bizarr, fragwürdig, uneinheitlich“. Diese noch freundliche Kritik äußerte der Journalist Hans Harbeck (1887–1968) im April 1911 anlässlich der zweiten öffentlichen Ausstellung von Noldes Bildern in der Hamburger Galerie Commeter. Den meisten seiner Zeitgenossen sprach aber wohl Johannes Sievers (1880–1969), Mitarbeiter des Kupferstichkabinetts der Berliner Museen, aus der Seele, als er im selben Jahr in den Werken Noldes „das Produkt eines Kranken, eines Schwerkranken“ zu erkennen glaubte. Ob er die Quelle der Inspiration kannte?
Das explosive Potential religiöser Darstellungen könnte Nolde bei seinem geistig erkrankten Malerkollegen Ernst Josephson (1851–1906) entdeckt haben. Kurz bevor Nolde mit der Serie im Jahr 1909 begann, besuchte er die Schwestern des jüngst verstorbenen Malers in Stockholm und sah dort wahrscheinlich dessen expressive Heiligenbilder.
Anstatt den Impuls durch Josephson zu benennen, stilisiert sich Nolde im 1934 erschienenen zweiten Band seiner Autobiografie „Jahre der Kämpfe“ zum ekstatischen Gläubigen, der in sich aufsteigende, ursprünglichste Kindheitserinnerungen auf die Leinwand werfe. Initialer Moment des künstlerischen Ausbruchs sei eine Nahtoderfahrung nach dem Konsum verunreinigten Wassers gewesen. Begleitet wäre der folgende Malrausch eines Besessenen von tiefem Glauben, der sich fern kirchlicher Dogmen entfalte: „Gefragt habe ich selbstredend niemand, wie religiöse Bilder aussehen müssen. […] Einem Verlangen nach Klarheit und Wahrheit war ich gefolgt“. So habe sich der entscheidende stilistische Wandel vom „optisch äußerlichen Reiz zu empfundenen inneren Wert“ in seiner Malerei vollzogen – eine fast lutherische Rechtfertigung des expressionistischen Stils.
Noldes betonte Subjektivität, der vermeintlich visionäre Charakter seiner Glaubenserfahrungen und das Wahnhafte seines Seelenzustandes lassen sich mit den Positionen anderer expressionistischer Künstler verknüpfen. Wohlbemerkt kokettieren die meisten eher mit dem Konsum von Absinth oder Opium und nicht dringend von verunreinigtem Wasser. Gemeinsam ist Nolde mit Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Erich Heckel (1883–1970) oder Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), dass sie sich der rationalen Brille der zivilen Gesellschaft entledigen wollten. Nur so könne die Welt direkt – wahrhaftig – erfahrbar sein. Dafür ermächtigten sie sich der Perspektive des Kranken, des Kindes oder des „Primitiven“. In mystifizierender Selbstdarstellung wird ein Bild wahrer und reiner Geistigkeit erschaffen, die sich von der Materialität der industrialisierten, bürgerlichen Welt entfernt.
Nicht mit den gut verkäuflichen Blumen- und Landschaftsbildern, sondern mit kontroversen religiösen Bildern wie „Christus in der Unterwelt“ konnte sich Nolde dauerhaft in den Debatten seiner Zeit halten und zum Inbegriff einer neuen Geistigkeit aufsteigen. Noch heute rechtfertigt die vorgetragene Ekstase den skandalös-provokanten Stil des Künstlerpropheten.
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