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Die Farben der Großstadt

Welche Farbe hat Berlin? Unendlich viele – vor allem dann, wenn die Stadt durch die Augen eines Expressionisten betrachtet wird. Emil Nolde ist den meisten als Maler von Blumen und Landschaften bekannt. Im mondänen Berlin aber, wo es ihn regelmäßig hinzog, brachten neue Eindrücke neue Motive hervor. Hier wurde die Nacht zum Tag – in unserem Blogartikel erfahrt ihr mehr über die Berliner Szenen..

Simona Hurst — 9. April 2014
Berliner Bohème: Emil Nolde (1867–1956); Tänzerin im roten Kleid (1910); Aquarell und Tusche auf Japan, 348 x 241 mm; Kunsthalle Emden; © Nolde Stiftung Seebüll

Berliner Bohème: Emil Nolde (1867–1956); Tänzerin in rotem Kleid (1910); Aquarell und Tusche auf Japan, 348 x 241 mm; Kunsthalle Emden; © Nolde Stiftung Seebüll

Berlin um 1910. Über drei Millionen Einwohner zählt die Metropole, die damals wie heute ein Zentrum kulturellen Lebens und Schaffens war. Breite Straßen, große Kaufhäuser, Tanz, Kabarett, die glanzvolle Theaterwelt mit ihren flirrenden Farben – der Kontrast zu Emil Noldes (1867–1956) Lebensentwurf auf der ruhigen Ostseeinsel Alsen könnte kaum größer sein. Das Bild des zurückgezogenen Künstlereremiten entspricht der verbreiteten Vorstellung dieses Malers aus dem Norden.

Winter in Berlin

So sehr Nolde die stille Einsamkeit der heimatlichen Küstenlandschaft auch suchte, so beständig zog es ihn in das bunte Gewühl der pulsierenden Großstadt. Regelmäßig tauschte er die ländliche Abgeschiedenheit von Alsen gegen das rastlose Leben der Hauptstadt. 1910 mietete er sich ein festes Wohnatelier am Tauentzien, später zog er in die Bayernallee im Berliner Westen um. In den Wintermonaten hielt sich der Maler die meiste Zeit in Berlin auf, etwa die Hälfte des Jahres verbrachte er in der Hauptstadt. „Ein größerer Gegensatz zum fernen sommerlichen Landleben war kaum denkbar. Dort der friedliche Wald, mit seinen singenden Vögeln, den lieben Tieren allen [...] hier die Benzinstraßen, der Zigarettendunst der Lokale, die blassen Wangen der Menschensklaven in dem Vierteljahreswechsel fremder Herbst-, Winter- und Frühjahrsmoden.“ Aus Noldes Worten spricht eine ablehnende Haltung gegenüber der großstädtischen Lebensweise. Trotz aller Abneigung gehörte das urbane Treiben zu seinem Leben. In Berlin zog er die Fäden zusammen, die er auf Alsen nicht greifbar hatte – er organisierte Ausstellungen, knüpfte und pflegte Kontakte und empfing Besuche.

Profilgewinn: Aus Emil Hansen wird Emil Nolde

Das Jahr 1902 war von entscheidenden Ereignissen bestimmt: Im Februar heiratete er Ada Vilstrup, Schauspielerin und Tochter eines dänischen Pastors. Frisch vermählt, mietete der Maler noch im selben Jahr sein erstes Atelier in Berlin Grunewald. In dieser Zeit nannte sich Emil Hansen in Emil Nolde um. Die Änderung seines Nachnamens nach seinem Geburtsort Nolde erscheint wie ein Bekenntnis zur Heimat. Zugleich zeugt sie von einem veränderten Bewusstsein in seiner Stellung als Künstler, der sich in einer Kunstmetropole wie Berlin profilieren musste, um nicht in der Masse unterzugehen. 1906/07 war er auf Einladung des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluffs (1884–1976) kurzzeitig Mitglied der Künstlergruppe Brücke, 1908 schloss er sich der Berliner Secession an, die sich 1898 als Abspaltung vom akademischen Kunstbetrieb gegründet hatte und in der Kunstszene einen wichtigen Stellenwert einnahm. Ein Disput mit dem Secessions-Präsidenten und bedeutenden Impressionisten Max Liebermann (1847–1935) führte 1910 jedoch zu seinem Ausschluss, gegen den er ergebnislos prozessierte.

Selbstbildnis 1917: Emil Nolde (1867–1956); Selbstbild, 1917; Öl auf Sperrholz, 83,5 x 65 cm; Nolde Stiftung Seebüll; © Nolde Stiftung Seebüll

Selbstbildnis 1917: Emil Nolde (1867–1956); Selbstbild, 1917; Öl auf Sperrholz, 83,5 x 65 cm; Nolde Stiftung Seebüll; © Nolde Stiftung Seebüll

Nächtliche Streifzüge durch die Hauptstadt

Der Ausschluss aus der Berliner Secession tat Noldes Produktivität keinen Abbruch. Im Winter 1910/11 schuf er 17 Gemälde und mehr als 300 Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken, die vorwiegend Szenen aus dem Berliner Nachtleben zeigen. Auf seinen Streifzügen durch das winterliche Berlin schenkte der Maler seine Aufmerksamkeit den künstlich beleuchteten Etablissements und den Figuren, die sie bevölkerten. In den mondänen Vergnügungsstätten der Berliner Bohème – den Bars und Cafés der Halbwelt, den Ballsälen, Theatern, Kabaretts und Tischgesellschaften – fand Nolde unzählige Motive. Die Bilder dieser Zeit, von denen in der Ausstellung im Städel Museum mehrere zu sehen sind, zeigen Cafébesucher, Zuschauer in Theatersälen, ins Gespräch vertiefte Herrengruppen und tanzende Paare. Zur Reihe seiner Tanzdarstellungen gehört auch das in der Retrospektive gezeigte Aquarell „Tänzerin in rotem Kleid“ (1910). Immer sind es flüchtige Momentaufnahmen – ein Eindruck, der durch ungewohnte Bildausschnitte und eine rasche Pinselführung noch unterstrichen wird. Meist dominiert grelles Gelb, Blau und Rot in scharfen Kontrasten. Seine ausgereifte Aquarelltechnik erlaubte ihm, vor Ort schnelle Skizzen anzufertigen – die Figuren sind meist grob umrissen und gewinnen auf diese Weise an Dynamik. Einige seiner Bilder erinnern an die Kaffeehaus-Szenen von Edgar Degas oder Henri de Toulouse-Lautrec und zeigen, wie sehr Nolde noch dem 19. Jahrhundert verhaftet ist. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Ernst Ludwig Kirchner oder Otto Dix, die den verruchten Sumpf der Großstadt abbilden, zeigt sich Nolde in seinen Berlinbildern eher konventionell. Er war mehr Beobachter als Kritiker und ließ sich in die rauschenden Berliner Nächte hineinziehen.

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