Wenn sich eine Ausstellung den Nachtseiten der Romantik zuwendet, ist mit wenig Licht zu rechnen. Und bricht doch der Tag herein, dann zeigt sich dieser nicht minder unheilvoll. Das taghellste Bild in der Ausstellung „Schwarze Romantik“ stammt von Salvador Dalí. In seinem Gemälde zeigt der Skandalkünstler, wie ein surrendes Insekt einen Traum auslösen kann und wie Traum und Wirklichkeit miteinander verwoben sind. Es trägt einen Titel, der für unseren Teaser schlicht zu lang ist. Deshalb sei nur so viel gesagt: (Alb-)Träume können einen spannenden und rätselhaften Einblick in die Abgründe des Menschen geben.
Jeder Mensch hätte vermutlich schon einige Male seinen eigenen Tod miterlebt, wenn er nicht in letzter Sekunde wieder aus seinem Albtraum erwacht wäre. Bevor unser Körper auf dem Fels aufschlägt, an dessen Klippe er gerade unaufhaltsam und eine gefühlte Ewigkeit hinab stürzt, fahren wir schweißgebadet aus dem Bett hoch. Ein innerlicher Mechanismus hindert uns offenbar daran, unser eigenes Ableben zu träumen – obwohl wir ansonsten fähig sind, im Schlaf die absurdesten und zugleich realistischsten Visionen zu spinnen.
Eine solche Vision hängt in der Ausstellung „Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“, die noch bis einschließlich 20. Januar im Städel Museum zu sehen ist. Es ist Salvador Dalís (1904–1989) kleinformatiges Gemälde mit dem großen Titel „Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen“. Es zeigt einen ausgestreckten, weiblichen Akt in einer atmosphärelosen Traumlandschaft. Über der Schlafenden entwickelt sich ein beängstigendes Bedrohungsszenario: Dem tiefroten Fruchtfleisch eines übergroßen Granatapfels entspringt ein großmäuliger Tiefseefisch, der einen Tiger-Löwen-Hybriden ausspeit, dessen Rachen wiederum eine zweite zähnefletschende Großkatze entsteigt. Das Ende dieser befremdlichen Symbolkette beschließt ein Gewehr mit aufgesetztem Bajonett. Im Hintergrund stolziert ein Elefant auf riesigen Spinnenbeinen unbeteiligt an dem Geschehen vorbei.
Der Künstler stellt nicht allein den Traum dar, er liefert auch gleich die Ursache für diesen mit und schafft damit zwei Realitätsebenen. Als Traumauslöser benennt und zeigt Dalí den Flug einer Biene um einen Granatapfel im unteren Bildfeld. Die Träumende, für die übrigens wie so häufig seine Ehefrau und Muse Gala Modell stand, muss diese an sich liebliche Szene also in einem Moment vor ihrem Traum betrachtet haben. Der Erotomane Dalí demonstriert nicht ohne Lustgewinn am Grotesk-Erhabenen, wie selbst aus harmlosen Alltagssituationen die gräulichsten Albträume erwachsen können. Im Traum wird aus dem gelb-schwarz gestreiften Pelz der Biene das gemusterte Fell eines Tigers und der giftige Insektenstachel vollzieht die Wandlung zu einem spitzen, todbringenden Bajonett. Das Bild bietet unzählige Möglichkeiten für weitere freie Assoziationsketten.
Unter den Surrealisten war Dalí der wohl größte Anhänger des Psychoanalytikers und Traumdeuters Sigmund Freud. Dieses Werk ist als Versuch zu verstehen, die Schritte der Traumlogik bildhaft nachzuvollziehen. Für den Künstler waren alle Formen des Unbewussten – Traum, Wahn und Delirium – eine unerschöpfliche Fundgrube für sein Bildrepertoire. Er entwickelte das System der „paranoisch-kritischen Methode“, mithilfe derer er sich in einen Wahnzustand hineinsteigerte, um daraus neue Bilder zu speisen. Aber nicht allein die Psychoanalyse machte er sich nutzbar. Dalí war kunstgeschichtlich hoch versiert. Es ist daher kein Zufall, wenn wir in seinem Werk wiederholt auf abgewandelte Motive anderer Künstler stoßen. In seinem Traumgemälde finden wir als Vorbild die nächtliche Albtraumszene aus Füsslis schwarzromantischen „Nachtmahr“ wieder, das übrigens auch in der „Schwarzen Romantik“ hängt. Insofern ist Dalís Werk in düsterer Finsternis gediehen, aber in gleißender Helligkeit erblüht. Der Albtraum ist für ihn keine Frage der Tageszeit, sondern des inneren Zustandes.
Für die Surrealisten waren Traum und Wirklichkeit zwei nur scheinbar gegensätzliche Zustände. Ihr Ziel war es, die Grenzlinien zwischen der Innenwelt und der Außenwelt zu verwischen und in der Kunst eine Form absoluter Realität zu erreichen. Diese sollte „schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ sein. Es ging ihnen also nicht um rationale Zusammenhänge, sondern um die Erschließung einer Welt jenseits des Bewussten.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.