Navigation menu

Die Kunst in unserem Kopf

Was passiert eigentlich in unserem Gehirn, wenn wir Kunst betrachten? Was gefällt wem, warum und unter welchen Bedingungen? Die empirische Ästhetik sucht Antworten.

Alicia Ernst — 25. Mai 2018

Neulich im Städel Museum: Eine Besuchergruppe steht vor Vermeers Geografen. Es handele sich um ein Werk des niederländischen Goldenen Zeitalters, sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft, erzählt die Kunstvermittlerin. Eine Museumssituation, soweit, so normal. Fast jedenfalls. Eigentlich interessieren wir uns nämlich gerade gar nicht so sehr für das berühmte Meisterwerk an der Wand, sondern für eine der BesucherInnen, die aufwendig verdrahtet mitten in der Gruppe steht. Das EEG misst ihre Gehirnaktivitäten während der Führung durch die Altmeister-Sammlung. Die anderen Teilnehmer schauen sie immer wieder an: Was passiert wohl in ihrem Kopf? Gefällt ihr das Gemälde?

Führung bei den Alten Meistern im Städel. Dabei geht es an diesem Abend nicht nur um die Kunst, sondern vor allem um die Betrachterin in der Mitte. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Führung bei den Alten Meistern im Städel. Dabei geht es an diesem Abend nicht nur um die Kunst, sondern vor allem um die Betrachterin in der Mitte. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Das kleine Schauexperiment ist Teil einer Tagung des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik im Städel Museum. Hier trifft Neurowissenschaft auf Kunst. Das Zusammentreffen ist tatsächlich ein Meilenstein für die Neuroästhetiker, fanden ihre Untersuchungen in den vergangenen Jahren doch vor allem unter den künstlichen Bedingungen eines Labors statt. Der Abend trägt daher auch den filmreifen Titel Neuroaesthetics in the Wild. Ein Kunstmuseum wird zur unberechenbaren Wildnis – jedenfalls im Vergleich zum „sterilen“ Labor.

Empirische Ästhetik

Edward Vessel ist Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Er freut sich offensichtlich über den Schritt seiner jungen Disziplin ins Museum. Als eine Abzweigung der Neuroästhetik versucht die empirische Ästhetik die psychologischen Prozesse und die Mechanismen im Gehirn während der ästhetischen Rezeption zu erforschen: Was macht das Betrachten eines Gemäldes oder einer Tanzperformance zu einer „schönen“ Erfahrung? Wie individuell ist ästhetischer Geschmack? Edward Vessel und seine KollegInnen gehen Fragen wie diesen auf den Grund. Dabei geht es allerdings nicht darum zu analysieren, was die Schönheit oder die Erhabenheit eines Gemäldes ausmacht, sondern wie und aus welchen Gründen wir etwas empfinden.

Auf dem Podium von „Neuroaesthetics in the Wild“ im Städel diskutierte Edward Sessel (ganz links) mit (v. l. n. r.) der Tänzerin und Choreografin Kristina Veit, Helmut Leder (Professor für Kognitive Psychologie an der Universität Wien), Suzanne Dicker (Wissenschaftlerin an der Utrecht University und New York University), Regina Oehler (Wissenschaftsjournalistin beim Hessischen Rundfunk) und Chantal Eichenfelder (Leiterin der Bildung und Vermittlung am Städel Museum). Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Auf dem Podium von „Neuroaesthetics in the Wild“ im Städel diskutierte Edward Sessel (ganz links) mit (v. l. n. r.) der Tänzerin und Choreografin Kristina Veit, Helmut Leder (Professor für Kognitive Psychologie an der Universität Wien), Suzanne Dicker (Wissenschaftlerin an der Utrecht University und New York University), Regina Oehler (Wissenschaftsjournalistin beim Hessischen Rundfunk) und Chantal Eschenfelder (Leiterin der Bildung und Vermittlung am Städel Museum). Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Die Forschung geht weit zurück. Schon Philosophen der Antike beschäftigten sich mit Fragen der ästhetischen Erfahrung. Aber der Begründer der empirischen Ästhetik, der Psychologe Gustav Fechner (1801–1887), konnte noch nicht zum Durchbruch der Wissenschaft beitragen. Erst vor rund 15 Jahren emanzipierte sich der Fachbereich der Neuroästhetik innerhalb der Hirnforschung. Mittlerweile interessieren sich auch Künstler, Designer – oder eben Museen – für die Ergebnisse. „Wenn wir besser verstehen, wie Menschen mit Kunst in Verbindung treten, könnten wir auch den Museumsbesuch noch gezielter gestalten, zum Beispiel mit einer spezifischen Präsentation der Sammlung oder entsprechenden Führungen,“ sagt Chantal Eschenfelder, Leiterin der Bildung und Vermittlung am Städel Museum.

Kunstrezeption mal anders

Und wo steht die Forschung momentan? Edward Vessel gewährt einen Einblick in seine derzeitigen Projekte: Gerade untersucht er, wie sich bestimmte, intern und extern orientierte Hirnnetzwerke bei einer ästhetischen Rezeption verhalten. Das interne Netzwerk wird vor allem beim Nachdenken oder bei Tagträumen aktiviert, das externe, wenn wir visuelle Reize wahrnehmen. Vessel findet immer mehr Belege dafür, dass diese beiden untersuchten Netzwerke gleichzeitig aktiv sind, wenn wir durch ein Werk innerlich bewegt werden. „Dieser Gehirnzustand ist einzigartig“, so Vessel.

Bislang war die Studiendurchführung an eine Laborumgebung gebunden, zu groß waren die Unwägbarkeiten „in der Wildnis“, die technischen Mittel noch nicht ausgereift genug. Im Labor bekommen TeilnehmerInnen verschiedene Kunstwerke unterschiedlicher Stile, Epochen, Kulturen und  Gattungen gezeigt und sollen diese anschließend bewerten. Währenddessen registriert ein Gerät ihre Hirnaktivität . Die Antworten und die Messdaten werden anschließend in einen statistischen Zusammenhang gebracht. So lässt sich bestimmen, wie sich eine ästhetische Erfahrung auswirkt.

Mit speziellen Messungen wird die neurophysiologische Aktivität während einer Kunstrezeption erfasst, darunter die Atmung oder Herzfrequenz. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Mit speziellen Messungen wird die neurophysiologische Aktivität während einer Kunstrezeption erfasst, darunter die Atmung oder Herzfrequenz. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Ab ins Feld!

Laborstudien – so wichtig sie für viele Untersuchungen auch sind – haben allerdings auch ihre Makel: Der Betrachter ist in seiner Autonomie eingeschränkt. Er kann nicht, wie im Museum, entscheiden, welches Gemälde er sich ansehen möchte und wie lange. Er ist allein und kann sich nicht austauschen. Das alles verzerrt die Ergebnisse. Verständlich also, dass das nächste große Ziel die Feldforschung ist. Der Tagungsabend im Städel macht den Aufschlag.

Neben der Besucherin mit dem EEG wurden noch zwei andere TeilnehmerInnen beobachtet. Ein zweiter Teilnehmer trug ein physiologisches Messinstrument, das Atmung, Hautreaktion oder Gesichtsmuskelbewegungen erfasst, die dritte Person durfte eine Eye-Tracker-Brille aufsetzen, mit der sich Blickrichtungen verfolgen lassen. Noch seien diese mobilen Geräte allerdings nicht präzise genug, erklärt Edward Vessel, um mit den komplexen Messmethoden im Labor mitzuhalten – sie ermöglichen aber einen ersten Schritt in den Dschungel.

Auch ein Eye-Tracker kommt bei den Untersuchungen zum Einsatz. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Auch ein Eye-Tracker kommt bei den Untersuchungen zum Einsatz. Foto: F. Bernoully, Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, 2018

Es gibt noch viel zu tun

Aber kann man so ein komplexes und persönliches Erlebnis wie das Betrachten eines Kunstwerks überhaupt  statistisch erfassen? Vessel möchte gar nicht abstreiten, dass die Erfahrung mit und die Bewertung von Kunst sehr subjektiv ist: „Auch wenn wir öfters überraschende Gemeinsamkeiten in den Hirnreaktionen der Probanden während einer starken, ästhetischen Erfahrung finden, können zwei Menschen dasselbe Bild anschauen und komplett verschieden emotional darauf reagieren“, sagt er. „Manche Menschen fühlen sich von klassisch schönen Gemälden angezogen, während andere Gemälde bevorzugen, die sie emotional herausfordern, weil sie negative Thematiken ansprechen.“

Bisher ist bekannt, dass die Geschmäcker bei naturalistischen Motiven sehr ähnlich sind, bei abstrakten Werken klaffen die Meinungen dagegen stärker auseinander. Diese Geschmäcker bilden sich erst im Erwachsenenalter heraus. Es deutet sich auch an, dass unsere Persönlichkeit einen Teil dazu beiträgt, wie intensiv wir auf Kunst reagieren. Jemand, der tendenziell eher offen für neue Erfahrungen ist, wird auch „ungefälliger“ Kunst gegenüber aufgeschlossen sein. Es gebe noch Vieles, das noch nicht über individuelle Unterschiede zwischen Menschen bekannt sei, sagt Edward Vessel. „Wir fangen erst an, uns an die riesige Bandbreite heranzutasten.“ Aber: „Es existiert auch nicht das eine Motiv, das jedem gefällt.“

Abgesehen von unserem Geschmack: Hat denn Kunst Auswirkungen auf unsere Gesundheit? Der Neuroforscher vermutet, dass sich eine Beschäftigung mit Kunst positiv auf das eigene Wohlbefinden auswirkt. Schließlich beruft sich auch die Kunsttherapie schon lange auf die  positive Auswirkung von Kunst auf die mentale Gesundheit.

Auch wenn die empirische Ästhetik erst am Anfang ihrer Möglichkeiten steht, ist Edward Vessel überzeugt: „Kunst zu erleben, hinterlässt einen bleibenden Eindruck und verbessert unsere Lebensqualität.“ Das weiß man im Städel ja schon lange.


Alicia Ernst war Praktikantin in der Presse und der Onlinekommunikation. Durch ihr Studium der Publizistikwissenschaft kannte sie sich bereits mit empirischer Forschung aus und war begeistert von der Verknüpfung von Kunst und Neurowissenschaft.

Das Städel Museum vermittelt Kunst auf vielen Wegen, ob vor Ort oder digital. Das ganze Angebot findet ihr hier.

Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik sucht übrigens immer nach StudienteilnehmerInnen!

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Peter Paul Rubens und Frans Snyders (Adler), Prometheus
1611/12 -1618, Öl auf Leinwand, 242,6 cm x 209,6 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia; Rembrandt Harmensz. van Rijn, Die Blendung Simsons, 1636, Öl auf Leinwand, 206,0 x 276,0 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main
    Rubens vs. Rembrandt

    Wettstreit der Emotionen

    Ein Bild grausamer als das andere: Mit seiner „Blendung Simsons“ hat Rembrandt versucht, Rubens’ „Prometheus“ zu übertreffen. Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Nils Büttner über die beiden Barockgiganten und ihr Verhältnis zu Gefühlen.

  • Giacinto Brandi, Heiliger Eremit (Paulus Eremita?), um 1670/80, Öl auf Leinwand,
111 x 89 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main. Erworben 2017 als Schenkung aus Privatbesitz
    Neu im Städel

    Giacinto Brandis „Heiliger Eremit“

    Der Brief einer älteren Dame führt Italien-Kurator Bastian Eclercy zu einem beeindruckenden Gemälde – das sie am Ende dem Städel als Schenkung überlässt. Aber wer ist der Künstler? Eine Spurensuche.

  • Onlinekurs zur Moderne

    Mini-Games mit Mehrwert

    Acht Sekunden beträgt die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Internetusers. Wie entwickelt man unter diesen Umständen einen Onlinekurs? Mit spielerischen und interaktiven Elementen – wie beim Städel Kurs zur Moderne.

  • Kunst und Demenz

    Besuch beim Vermittlungsangebot ARTEMIS

    Die Beschäftigung mit Kunst kann Menschen mit Demenz helfen – das hat eine umfassende Studie ergeben. Nun ist das Programm ARTEMIS Teil unseres Vermittlungsangebots. Wir haben eine Gruppe begleitet.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Honoré Daumier

    Zur Ernsthaftigkeit der Komik

    Wie Karikaturen funktionieren und warum Daumier für sie ins Gefängnis kam.

  • Der Film zur Ausstellung

    Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Städel Mixtape

    #34 Jan van Eyck – Lucca-Madonna, ca. 1437

    Ein ruhiger Moment mit Kerzenschein, ihr seid so vertieft, dass ihr alles um euch herum vergesst: Vor rund 600 Jahren ging es den Menschen ähnlich, wenn sie vor Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gebetet haben. In diesem STÄDEL MIXTAPE geht es um das Andachts-Bild eines raffinierten Geschichtenerzählers. 

  • Städel | Frauen

    Louise Schmidt: Bildhauerin!

    Teil 1 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Gastkommentar

    Kunst & Schwarze Löcher mit Astrophysikerin Silke Britzen

    Was sieht eine Astrophysikerin in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Silke Britzen (Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn) ihre individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum.