Die Beschäftigung mit Kunst kann Menschen mit Demenz helfen – das hat eine umfassende Studie ergeben. Nun ist das Programm ARTEMIS Teil unseres Vermittlungsangebots. Wir haben eine Gruppe begleitet.
Es ist ein ruhiger Mittwochnachmittag Ende Mai im Städel: Im Sammlungsbereich Moderne sitzt eine kleine Besuchergruppe auf Hockern vor der „Mona Lisa“ des Museums: Tischbeins Goethe in der römischen Campagna. Die Kunstvermittlerin stimmt die Teilnehmenden der Führung mit den Worten ein: „Wir machen das interaktiv, wir reden miteinander über die Bilder.“ Abgesehen von dieser Gruppe ziehen in der ersten Etage noch einige Schülertrupps von Bild zu Bild. Im Vorübergehen würde niemandem auffallen, dass es sich bei den Besuchern vor dem Goethe nicht um eine gewöhnliche Führung durch die Sammlung handelt, sondern um ein besonderes Angebot mit dem Titel ARTEMIS. Es richtet sich an Menschen mit Demenz.
Seit Kurzem hat das Städel Museum ARTEMIS fest in sein Vermittlungsprogramm aufgenommen. Das Angebot basiert auf einer medizinischen Pilotstudie, die das Städel in Kooperation mit dem Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität Frankfurt am Main zwischen 2014 und 2016 durchgeführt hat. Im Mittelpunkt stand die Frage: Welchen Beitrag kann die Beschäftigung mit Kunst leisten, um das emotionale Wohlbefinden und das Kommunikationsverhalten von Menschen mit Demenz zu steigern? Nicht zuletzt sollte dieser Patientengruppe so auch mehr gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration ermöglicht werden. ARTEMIS war die erste umfassende wissenschaftliche Studie zur interaktiven Kunstvermittlung und den therapeutischen Potenzialen einer kunstbasierten psychosozialen Intervention bei Demenz im deutschsprachigen Raum.
„Er ist erleuchtet!“, kommentiert eine Teilnehmerin, eine ältere Dame mit grauweißer, kurzer Dauerwelle, die Goethe-Darstellung mit einem Lacher. „Ja, das Bild wurde vom Maler nicht ganz fertig gemalt“, erklärt die Vermittlerin die hellere Himmelstönung rund um das Haupt des Dichters. Der erste Teil des ARTEMIS-Programms besteht aus einer Führung durch die Moderne zum Thema „Frankfurt“. Nicht alle der Teilnehmenden leben hier in der Stadt. Die Dame mit dem Blick fürs „Erleuchtete“ ist mit ihrer Tochter aus Aschaffenburg angereist. Zur Gruppe gehören außerdem ein Ehepaar aus Frankfurt und eine Frau, die in Begleitung ihrer Nachbarin gekommen ist. Für das Programm anmelden können sich Paare, die aus einer Person mit leichter bis mittelgradiger Demenz und einem Begleiter bestehen. Die Gruppengröße beläuft sich auf maximal sechs Paare. Eine Gruppe absolviert in zweiwöchigem Rhythmus insgesamt drei Termine.
Der Main – er ist eines der zentralen Themen in der Führung und übt in den unterschiedlichen Darstellungen von Courbet bis Beckmann eine nachhaltige Faszination auf die Gruppe aus. Vor dem Bild Ansicht von Frankfurt am Main (1831) von Domenico Quaglio d. J. berichtet die Kunstvermittlerin, dass der Main früher nicht besonders tief war und man ihn sogar stakend überqueren konnte. Sichtlich belebt wirft die Ehefrau ein, dass sie einmal selbst über den Main geschwommen sei. „Und wie war’s?“, erkundigt sich die Vermittlerin. „Na ja, kalt war’s“, kommt halb amüsiert, halb nüchtern die Antwort zurück. Gustave Courbets Blick auf Frankfurt am Main mit der Alten Brücke von Sachsenhausen her (1858) lässt eine der Teilnehmerinnen hingegen geradezu poetisch werden: „Die Stimmung strömt aus dem Bild.“
Die letzten zwei Gemälde, vor denen sich die Gruppe postiert, stammen beide von Max Beckmann: Frankfurter Hauptbahnhof von 1943 und Eisgang aus dem Jahr 1923. Bei ersterem zieht insbesondere die schwarze Katze in der vorderen linken Ecke die Aufmerksamkeit einer Teilnehmerin auf sich: „Das Auge hat etwas von: Da beobachtet mich einer. Das hat eine Außenwirkung.“ Die Tour endet wieder am Main beim Eisgang. „Wo Sie schon mal drüber geschwommen sind“, greift die Kunstvermittlerin die Anekdote der Schwimmerin erneut auf. Die Angesprochene nickt mit Bestimmtheit.
Im zweiten Teil des Programms werden die Teilnehmenden selbst kreativ aktiv. Auf dem Weg zu den Atelierräumen kommen die Kunstvermittlerin und der Ehemann ins Gespräch: Seine Frau und er seien beide Mediziner. „Sie ist normalerweise sehr unsicher und immer an meiner Seite, heute war sie durch die Führung abgelenkt“, stellt er fest. Und merkt noch an: „Sie ist nie durch den Main geschwommen.“ „Das spielt keine Rolle“, entgegnet die Vermittlerin mit einem Lächeln. Wenn er ihr erzählt hätte, dass sie malen sollte, wäre seine Frau gar nicht erst mitgekommen. Sie sage immer, sie könne nicht malen.
Malen sollen die Teilnehmenden im Atelier nicht unbedingt. Stattdessen liegen vor ihnen auf einem Tisch farbige Kopien von Städel Werken, die sich auf Frankfurt beziehen, sowie von aktuellen und historischen Fotografien der Stadt. Außerdem: Kleber, Scheren, Wachsmalstifte. Die Gruppe ist angehalten, in den Paarkonstellationen frei zu arbeiten und gemeinsam Bilder auf A3-Papier zu gestalten. „Sie dürfen das so machen, wie Sie wollen. Das ist künstlerische Freiheit: Es gibt kein Richtig oder Falsch“, motiviert die Kunstvermittlerin die Teilnehmenden. Das Ehepaar macht sich sogleich daran, eine aufgeklebte fotografische Ansicht des Städel Gartens zu modifizieren und auf dem unterliegenden Blatt Papier mit Wachsmalstiften in alle Richtungen auszudehnen.
Unterdessen zerlegt das Mutter-Tochter-Paar aus Aschaffenburg als Erstes eine Kopie von Tischbeins Goethe in Stücke und ordnet diese dann neu auf ihrem weißen Blatt an. „Sowas haben wir schon mal gemacht. Eins hängt schon bei uns im Gang – weißt du?“, wendet sie sich an ihre Mutter, die kurz nickt, bevor sie wieder konzentriert zum Klebestift greift. So entsteht nach und nach ein bunter Teppich aus Bilderschnipseln, der immer enger geknüpft wird. Die Mutter ist besonders darauf bedacht, abstehende Kanten säuberlich mit einer Schere abzuschneiden oder diese wahlweise mit Kleber zu fixieren. Ihre Tochter hat inzwischen zu einem feuerroten Wachsmalstift gegriffen. Gegen Ende der Atelierzeit stellt die Mutter die Collage vor sich auf und betrachtet sie aufmerksam. „Und?“, fragt ihre Tochter. „Gut“, urteilt die Mutter und kann ihren prüfenden Blick doch nicht ganz ablegen. Sie klebt eine weitere Schnipselkante nach und hält das Bild erneut vor sich hoch: „So sieht’s klasse aus.“ Die Ränder der Schnipsel fährt sie daraufhin noch mehrfach mit den Fingern nach.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sich sowohl bei Menschen mit Demenz als auch bei den Angehörigen das Wohlbefinden nach den Museumsbesuchen signifikant verbesserte. Ähnliches gilt für die Selbsteinschätzung der Lebensqualität. Die stärksten Effekte zeigten sich bei Menschen mit Demenz bei biografisch angelegten Zugängen (z. B. „Familie und Kinder“ und „Frankfurt am Main“) oder bei mehrere Sinnesebenen ansprechenden Ansätzen (z. B. Malen zu Musik bei der Atelierarbeit zum Thema „Abstrakt“). Bei Sitzungen mit größerem Anteil an eigenständiger Arbeit (Modellieren mit Ton oder Erstellung einer Collage) ist der Begleitung häufig aufgefallen, dass ihre Angehörigen mit Demenz länger ruhig sitzen blieben als sonst, entspannter wirkten und insgesamt mehr Ruhe ausstrahlten.
Zum Abschluss des Termins werden alle Collagen an die Wand gehängt, noch einmal in der Gruppe betrachtet und kurz kommentiert. Die Frau, die in Begleitung ihrer Nachbarin gekommen ist und während der Führung eher zurückhaltend war, äußert mit einem Lächeln: „Man ist wieder wie ein Kind.“ Sie war früher selbst Grafikdesignerin. Ihre Nachbarin berichtet, wie sie sich von ihr inspiriert gefühlt habe, selbst mutiger in der Gestaltung zu werden, Ausschnitte auch mal schräg aufzukleben und über die Begrenzung des Blattes hinaus zu arbeiten.
Auch die Kunstvermittlerin hat gemeinsam mit dem FSJler, der den Termin begleitet, eine Collage angefertigt. Mit blauem Wachsmalstift ist dort unter anderem eine Fläche mit einem Wellenmuster versehen, in deren Mitte eine zarte Figur eingezeichnet wurde. „Da habe ich an Sie gedacht: Das sind Sie, die über den Main schwimmt“, erklärt die Vermittlerin. „Das will ich wieder machen“, kommt prompt die Antwort der „Main-Überquererin“. Beim nächsten ARTEMIS-Termin sind sie und ihr Mann auf jeden Fall wieder dabei.
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