Ein Bild grausamer als das andere: Mit seiner „Blendung Simsons“ hat Rembrandt versucht, Rubens’ „Prometheus“ zu übertreffen. Ein Gespräch mit dem Kunsthistoriker Nils Büttner über die beiden Barockgiganten und ihr Verhältnis zu Gefühlen.
Städel: Die aktuelle Rubens-Ausstellung zeigt, welche künstlerischen Vorbilder Rubens rezipiert und in neue Bildideen umgewandelt hat. Es gibt jedoch eine Ausnahme, die den umgekehrten Weg aufzeigt: Rembrandts „Blendung Simsons“ hängt in einem Raum mit Rubens’ „Prometheus“ als Beispiel dafür, wie sich wiederum berühmte Nachfolger an Rubens abarbeiteten. Kannten sich Rubens und Rembrandt, DIE beiden großen niederländischen Barockmaler, eigentlich?
Nils Büttner: Rubens war wesentlich älter als Rembrandt und schon zu Ruhm gelangt, als Rembrandt geboren wurde. Als Rembrandt dann seine Malerkarriere begann, war Rubens der gesuchteste Maler an den Höfen Europas. Das heißt, Rubens ist ein Vorbild für Rembrandt, der sich – übrigens genau wie alle anderen Historienmaler dieser Zeit – an Rubens abarbeitet. Er kennt seine Werke, die in den Niederlanden zu sehen sind, genauso wie Zeichnungen nach Rubens’ Bildern.
Darauf spielt auch die Gegenüberstellung der beiden Gemälde in der Frankfurter Ausstellung an: Rubens’ Prometheus war im Haus des englischen Botschafters in den Niederlanden zu sehen und wurde dort gezeichnet und kopiert, sodass Rembrandt nicht nur über Kupferstiche mit diesen Werken vertraut war, sondern auch über das, was auf dem Amsterdamer Kunstmarkt kursierte. Rembrandt hat sich für Rubens in allen Phasen seines Lebens interessiert. Er ist in Konkurrenz mit seinem großen Vorbild getreten – genau wie Rubens es mit seinen Vorbildern getan hat.
Was hat Rembrandt so sehr an Rubens fasziniert?
NB: Rembrandt und Rubens wollen beide in ihren Bildern Gefühle zum Ausdruck zu bringen, die sich wiederum im Betrachter spiegeln sollen: Leiden wird also dargeboten, um zum Mitleid anzustecken. Und Rubens’ Bilder rühren den Betrachter besonders an. Sie bewegen über die großen Formate, über ihre farbige Brillanz, über die Haltung und den Ausdruck der Figuren. Andererseits polarisieren seine Bilder auch – bis heute. Von Begeisterung bis totaler Ablehnung gibt es an breites Spektrum an Reaktionen. Diese affektive Reaktion auf die Bilder ist genau das, was Rembrandt interessiert. Auch er möchte Bewegung der Seele hervorrufen, indem er Bewegung der Seele zeigt.
Und diese Emotionen wollte Rembrandt sogar noch übertreffen?
NB: Genau. Es geht dabei nicht um ein bloßes Nachmachen, sondern um ein durch die Rhetorik legitimiertes Prinzip der Nachahmung, deren Ziel die Aemulatio ist – also das Übertreffen und das Besiegen eines Künstlers auf seinem ureigensten Gebiet mit seinen ureigensten Mitteln: Ich ahme etwas nach, um es besser zu machen.
Warum sind die beiden Gemälde in der Ausstellung – Rembrandts „Blendung Simsons“ und Rubens’ „Prometheus“ – ein gutes Beispiel für dieses Prinzip?
NB: Rubens und Rembrandt zielen auf die Gefühle ihres Publikums. Beide illustrieren je eine Geschichte, die den Betrachtern seiner Zeit gut bekannt war. Sie wussten, dass Prometheus furchtbare Qualen litt, die in ihrer Grausamkeit gesteigert wurden, indem sich das Geschehen täglich wiederholte. Die vom Adler gerissene Wunde heilte schnell wieder. Rubens visualisiert das, indem der Adler sein Opfer kaum mit den Klauen berührt und nicht fest zupackt.
Der von Rembrandt illustrierte Angriff war final. Samson war danach blind. Schmerz und Schrecken sind von unglaublicher Eindringlichkeit. Rembrandt führt damit den Ausdrucksgehalt der seinerzeit fest im kollektiven Bildergedächtnis verwurzelten Figur des gequält auf dem Rücken liegenden Mannes zu gesteigertem Ausdruck – ganz im Sinne der Aemulatio. Ein wunderbares Beispiel für das Prinzip.
Was verbindet die beiden, außer ihren künstlerischen Zielen, Emotionen hervorzurufen und damit andere zu übertreffen?
NB: Rubens und Rembrandt sind beide Niederländer. Das kann man nicht oft genug sagen. Die heute betonte Trennung zwischen den nördlichen Provinzen und dem katholischen Süden der Niederlande war im 17. Jahrhundert längst nicht so strikt, wie das die neuere Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert proklamiert hat. Das heißt, man hat den höfischen Maler Rubens, der katholisch ist, dem protestantischen Maler Rembrandt gegenübergestellt, der für Demokratie, Freiheit und Bürgerlichkeit steht. Dabei übersieht man aber, dass auch die nördlichen Provinzen der Niederlande höfisch geprägt waren, dass die gesamte vormoderne Gesellschaft Gleichheit nicht als den Wert betrachtet, den wir heute darin sehen und dass die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für beide Maler viel ähnlicher waren, als man gemeinhin denkt.
Welche Auswirkungen hat das auf die Kunst der beiden Maler – und unsere Rezeption?
NB: Rubens und Rembrandt arbeiteten unter der gleichen allgemein geteilten Annahme, von dem was ein gutes Bild sei. Ihre Bilder sind Zeugnisse der Kultur ihrer Epoche und Teil eines visuellen Diskurses. Ihr komplexes Medienverständnis, das auf eine emotionale Bewegung des Betrachters zielt, ist uns heute fremd geworden. Dennoch können wir ihre Bilder mit Genuss und Gewinn betrachten. Man muss sich nur auf die Werke einlassen, dann wird man die einst intendierte Wirkung bis heute spüren. Die Frankfurter Ausstellung bietet zudem eine wunderbare Möglichkeit, den Entstehungsprozess der Bilder nachzuvollziehen. Dafür haben sich schon die Zeitgenossen sehr interessiert. Man kann lernen, wie diese Wirklichkeitsillusion entsteht, die dafür sorgt, dass einen diese Bilder bis heute berühren.
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