Aemulatio – so nannte man im Barock die hohe Kunst der Überbietung. Kaum einer beherrschte sie so souverän wie Rubens, der selbst berühmte Vorbilder wie Tizian „verbesserte“.
Ursprünglich war Aemulatio ein Begriff der antiken Literaturtheorie. Autoren wie Horaz und Quintilian benutzten ihn, um das Nacheifern und den Wettstreit mit einem bekannten literarischen Vorbild zu beschreiben. Das erklärte Ziel war dabei nicht die Imitation, sondern die Überbietung – es besser zu machen. Seit der frühen Neuzeit, vor allem in der Renaissance und im Barock, wurde der Begriff auch für die bildende Kunst verwendet.
Mit welchen Arbeitstechniken Rubens sich die Werke anderer Künstler angeeignet hat, haben wir hier im Blog schon angesprochen. Aber wie wirkt sich die Aemulatio konkret auf den Inhalt seiner Gemälde aus?
In einen Wettstreit dieser Art trat Rubens mit Michiel Coxcie, einem berühmten flämischen Landsmann. Geboren wurde Coxcie 1499, verbrachte wie Rubens Zeit in Rom und gehörte dort zum engen Kreis um Michelangelo. Für seine Zeit äußerst ungewöhnlich starb er erst mit 92 Jahren – womit sich die Lebenszeiten beider Künstler noch knapp 21 Jahre überschnitten. Schon damals war Coxcie vor allem bekannt für seine Kopien von Werken altniederländischer Künstler wie Jan van Eyck und Rogier van der Weyden. Rubens nahm sich aber eines seiner eigenhändigen Werke vor.
Rubens erwarb eine Zeichnung Coxcies, die dieser ausgehend vom Christus in Michelangelos Fresko in der Sixtinischen Kapelle entworfen hatte. Aus dem dort stehenden Christus machte Coxcie einen toten liegenden Mann, aus dem später wiederum sein Gemälde zum Tod Abels entstehen sollte. Rubens überarbeitete diese Zeichnung. Er hatte die etwas unbeholfene Darstellung des in die Bildflucht lagernden Körpers erkannt: Die Füße wirken in der Zeichnung wie im Gemälde viel zu groß.
In einer eigenhändigen Zeichnung korrigierte Rubens diese liegende Haltung, winkelte die Beine an und skalierte den Körper neu. Aber er ging noch einen Schritt weiter, indem er die Figur inhaltlich neu interpretierte: Aus dem erschlagenen Abel machte er den ständig mit dem Tod ringenden Prometheus. Dessen Körper ist vor Schmerzen gekrümmt, jeder Muskel angespannt. Was bei Coxcie noch ein leblos toter Körper war, wird bei Rubens zum intensiven Todeskampf.
Tizian war für Rubens zeitlebens ein wichtiges Vorbild – und damit Ansporn, dessen Werke zu übertreffen. An einem Beispiel wird dieser Wettstreit besonders gut deutlich: Das beliebte mythologische Thema des Abschieds der Liebesgöttin Venus vom sterblichen Adonis malten Tizian und seine Werkstatt aufgrund hoher Nachfrage gleich in mehreren Versionen. Die Szene zeigt den jungen Adonis, wie dieser gerade zur Jagd aufbricht. Venus, die vom tödlichen Ausgang dieses Ausflugs weiß, versucht vergeblich, ihren jungen Geliebten aufzuhalten.
In Tizians eigenhändiger Version aus dem Getty Museum sehen wir Venus in Rückenansicht. Fast unbekümmert blickt Adonis zu ihr herunter, zieht sie mit seinem entschlossenen Schritt fast mit sich. Im Hintergrund links erwacht Amor – leider zu spät, um die Tragödie noch aufzuhalten.
In Rubens’ Version des Themas aus dem Metropolitan Museum nimmt er sich genau dieses Werk zum Vorbild und liefert uns dabei ein Paradebeispiel der Aemulatio: Er dreht die gesamte Darstellung um 180 Grad und gibt uns damit freien Blick auf den Körper der Liebesgöttin. Dabei ging es ihm nicht (nur) darum, die sinnlichen Reize offensiver zu präsentieren. Sein Ziel war vielmehr die Dramatisierung der Szene. In Rubens’ Komposition greift Venus zärtlicher nach ihrem Geliebten und schaut ihm tief ins Gesicht. Adonis scheint weniger entschlossen als bei Tizian, er zögert und blickt gedankenverloren zurück. Mit aller Kraft ist nun auch der kleine Amor am Werk und versucht, Adonis am Gehen zu hindern. Durch diese Handgriffe wirkt die zweite Abschiedsszene spannungsvoller und vor allem wesentlich intimer.
Auch viele andere Beispiele der aktuellen Rubens-Ausstellung zeigen, wie Rubens spielerisch und geistreich die Bildaussagen seiner Vorbilder verschiebt, verkehrt oder intensiviert. Geht der selbstbewusste Malerfürst damit also immer als Sieger vom Platz? Diese Frage ist zweitrangig. Denn letztendlich war schon in der Antike das eigentliche Ziel dieser Konkurrenzsituation der Ansporn zu herausragender Kunst. Und schließlich bot auch Rubens selbst anderen Künstlern mit seinen Gemälden genug Stoff zur Aemulatio – dazu bald mehr.
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