Selbstbewusst war er: Rubens hat sich die berühmtesten Kunstwerke seiner Zeit vorgenommen – um sie völlig neu zu interpretieren. Kurator Jochen Sander über den Unterschied zwischen Kopie und Malergenie.
Die Ausstellung „Rubens. Kraft der Verwandlung“ zeigt, woher Rubens die Inspiration für seine Kunst nahm. Er hat sich ja offenbar ziemlich ungehemmt bedient, sowohl bei der Antike als auch bei berühmten Künstlern. Was sagt uns dieses Vorgehen über das „Malergenie“?
Die Vorstellung des voraussetzungslos, aus dem Nichts schöpfenden Künstlergenies ist ein Mythos des 19. Jahrhunderts. Das hat es so nie gegeben. Kein Künstler arbeitet im luftleeren Raum. Jeder reagiert auf das, was er vorfindet – mancher intensiver, mancher weniger. Bei einigen Künstlern erkennt man sofort die Vorlage. Und dann gibt es solche – dazu gehört Rubens – die imstande sind, ein künstlerisches Potenzial in einer antiken Skulptur oder einem Renaissance-Holzschnitt zu erkennen und daraus etwas unverwechselbar Eigenes zu schaffen. Ich verwende dafür gern den vielleicht etwas altmodischen Begriff anverwandeln. Das heißt, Rubens studiert sein Vorbild genau, indem er es zunächst in einer Zeichnung kopiert. Diese ist sein Ausgangspunkt für ein völlig neues Kunstwerk. Aneignung und Verwandlung – dieser Vorgang ist charakteristisch für ihn.
Bei diesem bewussten Prozess würden wir heute vielleicht von Remix sprechen, einer kreativen Technik, ohne die es ganze Musikrichtungen oder manche Werbung nicht geben würde. Können Sie ein konkretes Bildbeispiel beschreiben?
Am Ende sollte beim Remix natürlich mehr rauskommen als nur die Addition von Schnipseln. Das schafft Rubens locker. Nehmen wir das Gemälde Venus und Adonis, bei dem er sich von Tizian hat inspirieren lassen. In der Version von Tizian verabschiedet sich Adonis entschlossen von der Liebesgöttin, um auf die Jagd zu gehen – wo er später sterben wird. Was macht Rubens daraus? Er wechselt einfach den Betrachterstandpunkt, so als würden Sie in Tizians Bild hineingehen und die Szene von der anderen Seite sehen. Plötzlich schaut Adonis zögerlich zurück, denkt noch mal nach – die emotionale Botschaft ist eine andere.
Haben die zeitgenössischen Betrachter dieses Spiel durchschaut?
Für die Betrachter seiner Zeit macht Rubens hier ganz deutlich, wer sein Vorbild ist. Kunst war damals keine Massenware, sondern für einen elitären Zirkel von Kennern bestimmt. Das Schöne an unserer Ausstellung ist ja, dass die Besucher diesen kreativen Prozess, auch ohne großes Vorwissen, unmittelbar visuell nachvollziehen können. Das zeitgenössische Publikum erkannte das berühmte Vorbild natürlich auch so und durfte bewundernd analysieren, wie Rubens es uminterpretiert hat. Da entsteht plötzlich die Möglichkeit eines Diskurses. Im Barock war dieses Vorgehen als Aemulatio bekannt, was man übersetzen könnte mit „künstlerischer Überbietungswettstreit“ oder anders gesagt: „Ich kann’s besser!“.
Das dachte sich damals wahrscheinlich nicht nur Rubens. Haben nicht auch viele andere Künstler sich an Vorbildern abgearbeitet und versucht, es „besser“ zu machen?
Aemulatio an sich gehörte damals zur Nullachtfünfzehn-Anforderung an jeden Künstler. Die Frage ist nur: Wie gut ist jemand darin? Inwieweit gelingt es, nicht nur zu kopieren? Rubens führt uns das grandios vor. Er bedient sich selbstverständlich nur bei der Toplist der zu seiner Zeit bekannten Kunst, bei den berühmtesten antiken Statuen, bei Künstlern wie Tizian oder Caravaggio. So kann er am eindrücklichsten zeigen, dass er es „besser“ kann, da ist er unglaublich selbstbewusst.
Woher nahm Rubens dieses Selbstbewusstsein?
Rubens war ein Malerfürst. Wir müssen uns heute vor Augen führen, in welcher Zeit er gelebt hat. Rubens stammte aus einer reichen Patrizierfamilie, sein Vater war Jurist. Eigentlich war es ausgeschlossen, dass er Maler wird. Selbst zu seiner Zeit galt Malerei noch als Handwerk, somit war seine Berufswahl unter Stand. Dafür hat er Zeit seines Lebens daran gearbeitet, innerhalb seiner sozialen Schicht als Gelehrter und damit als gleichrangig anerkannt zu werden. Er war humanistisch hoch gebildet und mit allen wissenschaftlichen Diskursen seiner Zeit vertraut. Sein großes Vorbild war Tizian, der als erster Maler überhaupt in den Adelsstand erhoben worden war. Das sollte Rubens schließlich auch gelingen.
So ein Malerfürst – zumal ein so produktiver – muss auch delegieren. Wie können wir uns die Arbeit in der Rubens-Werkstatt vorstellen?
Rubens baute seine Werkstatt in Antwerpen auf, nachdem er 1608 aus Italien zurückgekehrt war. Sie war unglaublich produktiv, das stimmt. Wie genau sie funktioniert hat, wissen wir nicht. Überliefert ist aber, wie Rubens sie nach außen hin verkaufen wollte. Zeitgenossen berichten, dass Rubens der Ideengeber war und die „Drecksarbeit“ mit Terpentin, Öl und Farbe seinen Mitarbeitern überließ. Er überwachte den Prozess und war zuständig für das Finish. Was aus seiner Werkstatt herausging, galt als sein Werk – Rubens war eine Marke. Heute erinnert diese Strategie sehr an die eines Jeff Koons oder diverser Star-Architekten.
Tatsächlich hat Rubens nicht nur Gehilfen beschäftigt, sondern auch Künstler der ersten Liga herangezogen, teils hochspezialisierte Fachmaler für Landschaften, Tiere oder Stillleben wie Frans Snyders oder Jan Brueghel. Manche Werke, wie das Prometheus-Gemälde in unserer Ausstellung sind das Ergebnis großartiger Künstlerpartnerschaften. Für hochkarätige Auftraggeber hat er seine Gemälde in der Regel eigenhändig ausgeführt. Viele Werke hat er auch nur für sich gemalt und sie zu Lebzeiten nie verkauft. Die Ausstellung zeigt hauptsächlich diese eher seltenen, überwiegend von Rubens selbst ausgeführten Werke.
Und welches ist Ihr persönlicher Favorit in der Ausstellung?
Ganz klar, das Ecce Homo aus Sankt Petersburg. Das Gemälde ist unser Kampagnenmotiv und gleichzeitig die „Einstiegsdroge“ in die Ausstellung. Hier wird der gegeißelte Christus dem Volk vorgeführt. Rubens’ Vorbild war allerdings nicht irgendeine andere Ecce-Homo-Darstellung, von der es damals Tausende gab, sondern ein antiker Kentaur – also ein Sinnbild animalischer Triebhaftigkeit. Wie er das zu einem leidenden Christus uminterpretiert, ist schon außergewöhnlich. Allein der Blick der Christusfigur! Der ist alles andere als eindeutig, das ist grandios.
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