Das Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle ist ein Schlüsselwerk der europäischen Kunstgeschichte. Drei Jahre lang hat Annegret Volk es restauriert. Hier erzählt sie von dem spannenden Prozess.
Bis vor drei Jahren war ein Gemälde in der Altmeistersammlung des Städel Museums ausgestellt, das für ein Tafelbild des beginnenden 15. Jahrhunderts eher ungewöhnlich schien: Es zeigt den zur Linken Christi gekreuzigten Schächer, daneben zwei halb angeschnittene Soldaten – eine unvollständige Szene. Tatsächlich handelt es sich hier um ein Fragment. Das sogenannte Schächer-Fragment des Meisters von Flémalle ist das einzige erhaltene Puzzleteil eines ursprünglich monumentalen, wandelbaren Altarretabels aus Brügge, die obere Hälfte des rechten Flügels. Der Rest des Ensembles ist vermutlich dem Bildersturm im 16. Jahrhundert zum Opfer gefallen.
Dass dieses Fragment überhaupt noch existiert, ist ein wahrer Glücksfall, zeigt es doch einen Meilenstein der europäischen Kunstgeschichte: einen auf die Spitze getriebenen Realismus, den es so zuvor nie gegeben hatte. Von den verschiedenen, täuschend echten Stoffen bis zur grausigen Wunde des Schächers muss die Darstellung auf die zeitgenössischen Betrachter einen unglaublichen Eindruck gemacht haben. Technisch möglich war dies nur durch die Ölmalerei, die die beteiligten Künstler aus der Werkstatt des in Tournai tätigen Robert Campin, unter anderem Rogier van der Weyden, absolut perfektioniert und um kostbare Materialien ergänzt hatten. Eine Besonderheit ist der blattvergoldete Pressbrokat, der im Hintergrund einen Brokat-Wandbehang fast greifbar imitiert.
Wie hochwertig und beeindruckend die Darstellung tatsächlich ist, konnten wir bis vor kurzem nur erahnen. Besonders die Wirkung des Pressbrokats war kaum mehr wahrnehmbar. Da hauchdünne Blattgoldauflagen extrem empfindlich sind und leicht beschädigt werden können, war zunächst völlig unklar, ob eine Restaurierung überhaupt möglich ist.
Mit dieser Frage begannen wir unsere Untersuchung. Schnell wurde uns bewusst, dass wir ein ganzheitliches Konzept brauchten, das alle Dimensionen des Kunstwerks einbezieht. Nicht nur eine authentische Ästhetik des originalen Materials, auch die ursprüngliche Funktion und Bedeutung des Altarwerks und seine bewegte Geschichte sollten wieder sichtbar werden. Drei Jahre dauerte am Ende dieser Prozess, bei dem wir die Goldoberfläche des Pressbrokats wieder zum Strahlen gebracht und sogar völlig verdeckte Bildteile wieder sichtbar gemacht haben.
Ein Kunstwerk für sich ist die originale ornamentale Gestaltung des Pressbrokats, ein feines und glänzendes Relief aus Schriftbändern, Vögeln, Granatapfelblüten und Blättern. Doch seit das Städel Museum das Werk 1840 angekauft hatte, war die die ganze Pracht unter zwei dicken, im Laufe der Zeit vergilbten Harzüberzügen verborgen. Eine vergoldete, rote Kittmasse, die Fehlstellen ausgleichen sollte, tat ihr Übriges. Statt kostbarem Brokatstoff sah man nur noch einen roten Flickenteppich.
Die größte Herausforderung war, die Überzüge aus den Tiefen des Reliefs zu entfernen, ohne dabei das Blattgold zu bereiben. Sowohl der Einsatz von Lösungsmitteln als auch ein feines mechanisches Absprengen brachten keine brauchbaren Ergebnisse. Glücklicherweise hatten wir die Möglichkeit, ein Lasergerät zu testen – ein für die Restaurierung relativ neues Hilfsmittel. Und tatsächlich bewirkte der auftreffende Energiestrahl, dass sich die spröden Überzüge vom Gold lösten und in kleinen Flocken zu Boden rieselten. Mit ein wenig Nacharbeit kam eine schön patinierte und gealterte Goldoberfläche zum Vorschein. Die rote Kittmasse ließ sich gut entfernen und durch eine strukturierte Ergänzung ersetzen, die vergoldet und patiniert wurde.
Auch auf der Malerei waren die Harzüberzüge, die hier im Gegensatz zum Pressbrokat standardmäßig für Glanz und Sättigung der Malschicht aufgetragen werden, vergilbt. Sie konnten behutsam reduziert werden und brachten dabei feine Nuancen in der Tonalität der Hauttöne, die weiche Licht- und Schattenführung und Details wie den roten Bart des hinteren Soldaten wieder besser zur Geltung. In diesem Zusammenhang kamen unter alten Übermalungen auch der Daumen an der rechten Hand des hinteren Soldaten und ein kleiner Teil der Ohrmuschel des vorderen Soldaten zum Vorschein und konnten wieder rekonstruiert werden.
Lange Zeit war das Schächer-Fragment wie ein Gemälde gerahmt, womit genau das verschleiert wurde, was das Werk eigentlich ist: ein Bruchteil einer größeren Erzählung. Dass die Geschichte jenseits des Rahmens weiterging, zeigte ursprünglich ein aus der Mitteltafel herüberwehender Gewandzipfel. Den kaschierte man ganz pragmatisch nach der Zerstörung des Retabels, um den unvollständigen Charakter des Werkes zu verbergen – aus einem Fragment wurde ein Tafelbild.
Dieses Stoffstück unter der nachträglich aufgebrachten Vergoldung wieder freizulegen, war die wichtigste Entscheidung im Restaurierungsprozess. Mit der neuen Präsentation des Fragments – ungerahmt und freistehend in einer Vitrine – ist es nun wieder möglich, die Tafel von allen Seiten zu betrachten und tief in die Geschichte des ursprünglichen Altars einzutauchen.
Rätselhaft erscheint uns heute die ehemalige Flügelaußenseite des Schächer-Fragments. Bis 1970 war sie schwarz übermalt. Sie wurde mit dem Umbau vom Retabel zum Tafelbild schlicht zur „Rückseite“ und spielte keine Rolle mehr. Noch schwerwiegender war ein Eingriff, der mit dem Ankauf für das Städel Museum im Jahre 1840 vorgenommen wurde: Zu dieser Zeit hatte ein vertikaler Riss die gesamte Tafel entzwei geteilt. Der Frankfurter Maler Johann Friedrich Morgenstern reparierte diesen, indem er ihn nicht nur verleimte, sondern zusätzlich die schwarz übermalte Farbschicht um den Riss abhobelte, um eine hölzerne Stabilisierungsleiste aufzubringen. Das erklärt den heute fragmentarischen Zustand.
Restauratorisch kann man diesen großen Verlust nicht ergänzen, ohne in Spekulation zu verfallen. Deshalb ging es uns darum, die augenfälligsten Reste alter Maßnahmen, die alte Stützleiste und die schwarzen Übermalungsreste, zu entfernen, um den Blick wieder mehr auf das Original zu lenken.
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