Fast 90 Jahre war es verborgen: Unter Ernst Ludwig Kirchners Schlittenfahrt im Schnee haben unsere Restauratoren ein bisher unbekanntes Gemälde des Künstlers entdeckt. „Szene im Café“ ist nun als Teil einer Kabinettpräsentation erstmals zu sehen.
Eigentlich wollten wir „nur“ Kirchners Schlittenfahrt im Schnee aus unserer Sammlung untersuchen und restaurieren. Schnell war jedoch klar, dass sich unter der Leinwand ein zweites, früheres Bild des Künstlers befand – die Szene im Café. Solche Funde ereignen sich nicht jeden Tag! Das bislang versteckte Werk entstand um 1926, als sich Kirchner bereits seit acht Jahren in die Nähe des Schweizer Ortes Davos zurückgezogen hatte. In dieser Zeit veränderte sich sein Stil maßgeblich: Die zackige, nervöse Linienführung seines Frühwerks wich einer flächigeren Malweise und einem oft rigiden, stark abstrahierenden Bildaufbau.
Das Städel verfügt über einen hochkarätigen Bestand an Brücke-Werken, darunter zahlreiche bedeutende Arbeiten von Kirchner. „Allerdings haben wir bislang nur wenige repräsentative Gemälde aus seinem Spätwerk. Der Fund von Szene im Café ist auch gerade in diesem Sinne eine hervorragende Bereicherung unserer Expressionismus-Sammlung“, so Felix Krämer, Sammlungsleiter für die Kunst der Moderne, der 2010 auch die große Kirchner-Retrospektive am Städel kuratiert hat.
Kirchner verwendete für seine Bilder überwiegend Leinwände, die er selbst auf Keilrahmen aufspannte. Anschließend trug er eine sogenannte Grundierung auf – eine vorbereitende, saugfähige Schicht aus Kreide, Leim und Leinöl. Wie seine Zeitgenossen malte auch er mit handelsüblichen Tubenölfarben. Verdünnt mit Benzin und einer Beigabe von Wachs entsteht die für seine expressionistischen Bildwerke charakteristische, matte Oberfläche.
Für die Schlittenfahrt im Schnee stand dem Künstler vermutlich schlichtweg kein neuer Keilrahmen zur Verfügung. Daher spannte er wohl eine Leinwand über die bereits vollendete Szene im Café und malte darauf das Winterbild. Dass eine solche Vorgehensweise keine Seltenheit in Kirchners Arbeitsweise gewesen zu sein scheint, wird von einem Brief des Künstlers aus dem Jahr 1918 belegt. Dort bittet er den Sammler und Mäzen Carl Hagemann, bei Käufern zweier seiner Werke nachzufragen, ob unter diesen nicht eventuell weitere Leinwände aufzufinden seien. Als Grund für diese Vorgehensweise gab Kirchner den Mangel an zur Verfügung stehenden Keilrahmen an.
Um beide Bilder als eigenständige Werke präsentieren zu können, haben wir die Schlittenfahrt im Schnee abgespannt und auf einem neuen Keilrahmen befestigt. Dass die beiden Gemälde von gleicher Hand stammen, wird von mehreren Befunden belegt: Die originale, von Künstlerhand ausgeführte Aufspannung war zu dem Zeitpunkt der Untersuchung noch vorhanden. Spuren der Grundierung beider Bilder befinden sich zudem auf dem originalen Keilrahmen. Außerdem war die Grundiermasse der Schlittenfahrt im Schnee beim Auftrag auf das darunter liegende Gemälde durchgedrungen, wo sich infolgedessen kleine Pünktchen abgebildet haben. Diese wurden bei der Restaurierung des Gemäldes vorsichtig mit einem Skalpell entfernt.
Als ein repräsentatives Werk aus Kirchners späterer Schaffensphase baut das neue Werk den Städelschen Bestand an Brücke-Arbeiten hervorragend aus. Wir zeigen es nun erstmals im Rahmen einer Kabinettpräsentation, die anhand von mehreren Fallbeispielen Einblick in unsere aktuellen Forschungs- und Restaurierungstätigkeiten gewährt.
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