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Ist die Welt mehr, als man sieht?

Eine mittelalterliche Auferstehungszene, daneben ein abstraktes Gemälde von 1961: Was erzählen beide über die Ostergeschichte – und unsere aktuelle Zeit? Eine Kunsthistorikerin und zwei Geistliche im Dialog über Kunst und Religion.

Anna Huber — 9. April 2020

Anna Huber (Städel Museum): Ein virtuelles Hallo an Sie beide, Herr Scholz und Herr Schnell! In der Sammlung des Städel Museums ist zu Ostern das Gemälde des Hausbuchsmeisters ein echter Klassiker – eine sehr eindrückliche Darstellung der Auferstehung Jesu von den Toten. Was hat das Bild denn genau mit der biblischen Ostererzählung zu tun?

Digital verbunden (v. l. n. r.): Anna Huber ist Kunsthistorikerin und arbeitet in der Abteilung „Bildung & Vermittlung“ des Städel Museums, David Schnell ist Inhaber der Pfarrstelle für Stadtkirchenarbeit am Museumsufer und Dr. Stefan Scholz Rektor am Frankfurter Dom St. Bartholomäus.

Digital verbunden (v. l. n. r.): Anna Huber ist Kunsthistorikerin und arbeitet in der Abteilung „Bildung & Vermittlung“ des Städel Museums, David Schnell ist Inhaber der Pfarrstelle für Stadtkirchenarbeit am Museumsufer und Dr. Stefan Scholz Rektor am Frankfurter Dom St. Bartholomäus.

David Schnell: Aus dem Matthäusevangelium übernimmt das Gemälde das Motiv des Engels, der vom Himmel kommt. In diesem Moment, so heißt es da wörtlich, fallen die Grabeswächter um, „als wären sie tot“. Sie werden hier schlafend gezeigt. Was mit Jesus passiert, ist aber in der Bibel nicht beschrieben. Die Pointe aller vier Ostergeschichten in den Evangelien – bei Markus, Matthäus, Lukas und Johannes – ist, dass die Frauen zu dem Grab Jesu kommen und es leer vorfinden. Das eigentliche Osterwunder ist das leere Grab. Im Bild sehen wir das nicht: Die drei Frauen sind noch gar nicht angekommen.

Hausbuchmeister, Auferstehung Christi, ca. 1485-1490, Mischtechnik auf Tannenholz, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: U. Edelmann

Hausbuchmeister, Auferstehung Christi, ca. 1485-1490, Mischtechnik auf Tannenholz, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: U. Edelmann

Anna Huber: Kunsthistorisch gesprochen, kann man die Einfügung der drei Frauen im Hintergrund als „Simultanerzählung“ bezeichnen. Zwei Szenen werden gleichzeitig gezeigt, die zeitlich versetzt geschehen. In der biblischen Geschichte passiert die Auferstehung in der Nacht, erst am Ostermorgen finden die Frauen das leere Grab vor. Wieso war denn den Auftraggebern dieses Bildes das Vorkommen der drei Frauen so wichtig?

Stefan Scholz: Dass wir nicht erfassen können, wie die Auferstehung vonstattengeht, stellt schon ein gewisses Paradox dar. Apostel Paulus sagt, der ganze Glaube hänge daran, dass Christus von den Toten auferstanden ist. Doch wenn man nach dem Beweis dafür fragt, ist das Christentum sehr nüchtern. Man wird verwiesen auf diejenigen, die von Christus sagen, er sei auferstanden. Die drei Frauen sind stellvertretend für alle Gläubigen, stellvertretend für diejenigen,  die diesem Glauben eine Gestalt geben. Es ist ein Beweis, der im Glauben erfolgt, und gleichzeitig zum Glauben führen soll: ein merkwürdiger Zirkelschluss. Christus sieht als Quintessenz dessen, was andere mit ihm erleben, auch in diesem Gemälde.

Anna Huber: Ist es nicht erstaunlich, dass der auferstandene Jesus in einer offenen Landschaft gezeigt wird? Der Maler hat jedenfalls viel Wert auf den Eindruck von Räumlichkeit gelegt: Der Sarkophag ist perspektivisch angeordnet; die Berge erscheinen blau in der Ferne. Wie passt dieser Realismus mit der Darstellung eines Wunders, einer Erscheinung zusammen?

David Schnell: Das Gemälde zeigt eine Landschaft, die man sich gut im Pfälzerwald oder bei Speyer vorstellen kann, wo der Hausbuchmeister tätig war. Mit dem Nahen Osten, wo die Geschichte eigentlich spielt, hat das nichts zu tun. Typischerweise für die Kunst des Spätmittelalters wird die Geschichte der Auferstehung in extremstem Maße aktualisiert. Die Aussage ist: Das, was damals passiert ist, ereignet sich immer wieder, und zwar im Glauben. Dahingehend ist es auch interessant, dass wir hier einen Teil eines größeren Altarwerks vor Augen haben, das wohl ursprünglich im Speyrer Dom, also in engstem Zusammenhang mit dem Gebet und der Feier der Messe stand.

Anna Huber: Erstaunlich, wie viel Raum der halbnackte Körper Jesu in dem Gemälde einnimmt. In der katholischen Messe bedeutet die Hostie, die auch vor diesem Altarwerk geweiht wurde, ganz konkret die körperliche Präsenz Gottes. Die hagere Gestalt des Auferstandenen ist hier anatomisch durchdefiniert: Jede Rippe ist zu sehen, auch die Kniescheibe. Diese malerischen Details laden zum genauen Hinschauen ein, machen die Erscheinung so „handgreiflich“.

Stefan Scholz: Dem Christentum haftet manchmal der Ruf an, körperfeindlich zu sein. Es erkennt aber die Auferstehung des Fleisches an. Als die christliche Religion sich verbreitete, war diese Vorstellung für die Menschen der Antike anstößig. Sie dachten, geprägt von der griechischen Philosophie, dass nur die Seele sich nach dem Tod mit dem Göttlichen wiedervereinigt. Das Individuelle, Materielle, das Menschliche stellte man sich dabei eher hinderlich vor. Im Christentum ist letzteres aber genau Gegenstand der Auferstehung. Nicht nur die Seele, sondern auch der Geist und der Körper als Träger der menschlichen Lebensgeschichten stehen auf.

David Schnell: Die Bezogenheit aufs Körperlichegeht auf die jüdische Tradition des Christentums zurück. Wir glauben an einen Gott, der die Welt, so wie sie ist, am Anfang erschaffen hat – auch den menschlichen Körper.

Anna Huber: Aber so richtig schön sind die Körper im Bild nicht – allen voran der etwas hagere Jesus mit eingefallenem Gesicht und seinen Wunden. Das Irdische in dem Gemälde ist ja außerdem auch durch die Grabwächter repräsentiert. Die sind nicht als römische Soldaten dargestellt, sondern mit ihren Kleidern und Waffen als Zeitgenossen des ausgehenden 15. Jahrhunderts – vielleicht sogar spezifisch als Söldner mit gezeichneten Gesichtern.

Stefan Scholz: Ja, wenn man sich jetzt eine Stadtbevölkerung vorstellt, die den Altar sieht, die vielleicht ähnliche Gesichter hatten: Die haben wohl gemerkt, dass sie nicht ausgeschlossen, sondern Teil des Geschehens sind. Die Versehrtheit des Menschen hat im Lichte Gottes auch seinen Platz. Im vierten Gottesknechtslied, das jetzt in der Coronakrise eine große Bedeutung in den christlichen Messen bekommt und Teil der Karfreitagsliturgie ist, da heißt es etwa: „Er hatte keine schöne Gestalt, das wir nach ihm geschaut hätten, wir dachten er sei von Gott geschlagen.“ In Ansicht des Gekreuzigten, eines versehrten Menschen mit Wunden, ist Platz für die eigene Versehrung. So ein Gedanke kann für Menschen, gerade bedroht von Krankheit, sehr tröstlich sein.

Anna Huber: Die beiden Grabwächter, die aufschauen, die haben mehrere Warzen im Gesicht. Medizingeschichtlich galten Warzen damals allgemein als Zeichen von Krankheit. Und zwar waren sie als kleine offene Wunden gedacht, über die, – so glaubte man – sich die Ansteckung von Krankheiten vollzog.

David Schnell: Was hat das Thema Krankheit bei den damaligen Menschen ausgelöst! In einer Zeit, in der der Tod ja eigentlich ständig präsent war, nicht zuletzt  durch Epidemien und Seuchen. Die Verbindung der Auferstehung zur Kreuzigung Jesu ist hier wichtig: Die stolz flatternde Kreuzesfahne in dem Bild symbolisiertden Sieg Jesu über die Todesbedrohung.

Anna Huber: Wieso ist eigentlich der Sarkophag verschlossen? Jesus ist doch auferstanden. Häufig wird das geöffnete, leere Grab in Gemälden der Zeit besonders in Szene gesetzt.

Stefan Scholz: Der Sarkophag ist nicht nur verschlossen, sondern sogar versiegelt! Durch dieses Detail wird indirekt gesagt: Alle Macht der Welt – die höchste religiöse wie staatliche Autorität haben Jesus ja zum Tode verurteilt – konnte dem Handeln Gottes keinen Einhalt gebieten. Das Motiv des Siegels verweist auch auf die biblische Offenbarung des Johannes. Dort kann Christus, das Lamm, das Buch mit den sieben Siegeln lösen. Die Rätsel der menschlichen Existenz lassen sich in christlichem Sinne also lösen, wenn ich in der Liebe bleibe und dem Bösen und dem Tod nicht Vorschub leiste.

Anna Huber: Das Rätselhafte – dieser Gedanke bietet eine gute Überleitung zu unserem zweiten Gemälde, ein sogenanntes Black Painting des US-amerikanischen Künstlers Ad Reinhardt aus dem Jahr 1961. Dieses Bild ist rätselhaft, in dem es nichts zeigt.

Ad Reinhardt, Abstrakt Painting, 1961, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Dauerleihgabe der Adolf-Luther-Stiftung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Ad Reinhardt, Abstrakt Painting, 1961, Öl auf Leinwand, Städel Museum, Frankfurt am Main, Dauerleihgabe der Adolf-Luther-Stiftung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

David Schnell: Besucherinnen und Besucher können mit dem Bild oft erst einmal nichts anfangen. Aber wer sich darauf einlässt, erlebt, wie es sich verändert: Langsam entwickeln sich aus dem eintönigen Schwarz neun farblich abgetönte Quadrate. Auch bei der Auferstehung lohnt sich genaues Hinschauen: Da ist ja nicht nur ein leeres Grab. Es gibt viele Wege, um die Auferstehung zu begreifen.

Stefan Scholz: In der katholischen Liturgie werden in der Fastenzeit alle Bilder und Kreuze verhüllt – ein Fasten der Augen, eine Reinigung von allen Bildern, damit man sie danach neu erlebt.

Anna Huber: Ad Reinhardt suchte die Reinform, das Pure der Kunst. Er wollte die Malerei radikal von allen Inhalten befreien. So entstehen in der Serie Abstract Paintings Gemälde ohne Erzählung und fast ohne sichtbaren Pinselstrich. Bereits Kasimir Malewitsch hat 1915 mit seinem schwarzen Quadrat für Aufruhr gesorgt, mit dem er „die Kunst vom Gewicht der Dinge“ zu befreien versuchte. Und auch Reinhardts Zeitgenosse Mark Rothko hat seine Kunst auf Farbfelder reduziert. Doch Reinhardt selbst sucht eine Art Nullpunkt. Daher er kommt am Ende seiner künstlerischen Schaffenszeit zur Farbe Schwarz.

Stefan Scholz: Es gibt eine gewisse Analogie zum Meister des Hausbuches: Wirklichkeit enthüllt sich nur im Vollzug der Wirklichkeit. Der Glaube enthüllt sich nur glaubend. Und genauso ist Kunst nicht nur eine Bühne für irgendetwas, sondern hier beglaubigt sich Kunst nur durch sich selbst.

Anna Huber: Abstraktion in seiner Reinform folgt dem Ziel, sich von dem traditionellen Prinzip der Naturnachahmung zu lösen. Aber sucht der Mensch nicht gerade nach Halt, also auch nach dem Erkennbaren? Und ist es daher nicht auch für den Glauben wichtig, Bilder bereitzustellen?

Stefan Scholz: Wenn alles erklärbar ist, wird alles auch verfügbar. Damit wiegt man sich aber in falschen Sicherheiten. Gerade jetzt machen wir diese Erfahrung - wo wir doch dachten, alles sei durch Globalisierung stets verfügbar. Vielleicht ist es ja existentiell für den Menschen zu erfahren, dass er nicht über alles verfügen und nicht alles erklären kann. Das ist sowohl bei Ad Reinhardt als auch bei dem auferstandenen Christus des Hausbuchmeisters der Fall: Beide beschreiben eine Leerstelle, die sich dem Zugriff verweigert. Man muss sich anders annähern. Vielleicht kommt der Intellekt an eine Grenze; es ist dann ein reines Sehen, ein reines Betrachten.

Anna Huber: Reinhardt arbeitet mit seinem Werk genau an dieser Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Die Bildelemente in unterschiedlichen Schwarztönen geben sich erst auf den zweiten Blick zu erkennen, auch durch den wechselnden Lichteinfall. Es entsteht Spannungsfeld zwischen der Farbe Schwarz als Ausdruck für das Verschlingen jeglicher Energie und der Sonne als Lichtquelle. Inwieweit ergeben sich da Parallelen zur christlichen Bedeutung von Licht und Schatten?

Stefan Scholz: Dionysius Areopagita, ein Kirchenhistoriker des 5. und 6. Jahrhundert, beschreibt Gott als Licht und Jesus als Licht der Welt: Die Menschen selbst können das göttliche Licht nicht erfassen in seiner Lichthaftigkeit. Sie sehen es nur, wenn es sich in Gestalt von Jesus Christus bricht. Das heißt, Glauben tritt als Glauben in Erscheinung. Kunst als reine Kunst, ohne Erzählung, ist ebenso existenziell. Nun gibt es innerhalb des schwarzen Bildes ja eine gewisse Ordnung durch diese Quadrate. Das ist für mich ein Ins-Bild-Bbringen von Unverfügbarkeit, die unser menschliches Leben doch sehr prägt: Wir können heute den Menschen ganz auseinanderklamüsern. Aber der Mensch, genauso wie Kunst oder der Glaube lassen sich nicht auf Begriffe herunterbrechen.

Anna Huber: Ad Reinhardt hat ab 1953 nur noch solche scheinbar monochromen Bilder gemalt. Er bezeichnete sie als „last paintings“ – als letzte Bilder, die man malen kann. Sie enthalten alles: Sie machen sichtbar und verhüllen gleichzeitig, sind Farbe und Form, aber auch Farbe und Monochromie. Er geht damit sogar an die Grenzen der Auflösung.

Stefan Scholz: Ein hoch kontemplativer Akt! Die beiden Bilder von Reinhardt und dem Hausbuchmeister beinhalten etwas, was man nicht sehen kann: Nur wenn man sich darauf einlässt, enthüllt sich ein ganzer Kosmos.  Beide Bilder decken sich in der Aussage, dass es in der Welt etwas Unverfügbares gibt. Dass die Welt mehr ist, als man sieht.

David Schnell: Letzte Bilder …  Es gibt nicht den einen letzten Punkt. So wie die Auferstehung sich im christlichen Denken immer wieder wiederholt und aktualisiert, so hat auch Ad Reinhardt diese Bilder in Variationen immer neu als „letzte Bilder“ geschaffen.


Anna Huber ist Kunsthistorikerin und arbeitet in der Abteilung Bildung und Vermittlung des Städel Museums. Pfarrer David Schnell ist Inhaber der Pfarrstelle für Stadtkirchenarbeit am Museumsufer und Dr. Stefan Scholz ist Rektor am Frankfurter Dom St. Bartholomäus. Gemeinsam mit verschiedenen Kunstvermittlerinnen und -vermittlern begeistern die beiden seit vielen Jahrenim Städel Museum und in der Liebieghaus Skulpturensammlung mit ihrem Vermittlungsformat „Kunst und Religion

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