Grenzen, Innen und Außen, Form und Volumen – diese Grundelemente definieren Raum. Doch wie wird das Dreidimensionale in der Fläche dargestellt? Dieser Frage widmet sich nun eine Ausstellung im Städel.
Den Sprung „In die dritte Dimension“ vollziehen zu Beginn gleich zwei Utopien aus den 1920er Jahren. Nein, die Ausstellung in der Graphischen Sammlung zeigte keine Science-Fiction, sondern künstlerische Raumkonzepte, festgehalten auf Papier: 3D auf 2D. Spätestens seit dem Bauhaus haben Künstler immer wieder Räume entwickelt, die sich jeder Messbarkeit und Rationalität entziehen. Wie unterschiedlich die Wege in die Dreidimensionalität sein können, zeigen die Raumkonzepte von 13 Künstlern – viele von ihnen Bildhauer. Sie führen bis in die unmittelbare Gegenwart.
Den Auftakt bilden zwei Mappenwerke des Russen El Lissitzky (1890–1941) und des ungarischen Künstlers und Bauhaus-Lehrers László Moholy-Nagy (1895–1946). Lissitzky hat in den 1920er Jahren das Model eines offenen Raumes, ganz ohne Grenzen, entwickelt. Er wird beherrscht von sogenannten Prounen, abstrakten, in Bewegung versetzten Konstruktionen aus geometrischen Formen. Sie fallen in die Tiefe, gleiten entlang von Spiralen, Vertikalen, Horizontalen, geraden Linien oder von Kurven. Lissitzkys abstrakter Raum lässt sich nicht mit rationalen Maßstäben erfassen: „[…] Entfernungen“, so beschreibt es der Künstler, können „mit keinem endlichen Maßstab gemessen werden, so wie die Gegenstände im planimetrischen oder perspektivischen Raum.“
Im selben Jahr, in dem das Mappenwerk Proun entstand, veröffentlichte auch László Moholy-Nagy sein druckgrafisches Werk Konstellationen, auch dieses setzt sich mit moderner Architektur auseinander, inspiriert von Gebäuden aus Glas. Moholy-Nagys zentrales Untersuchungsfeld ist dabei das Licht. Der Facettenreichtum transparenter Wirkungen fand Eingang in seine Malerei, Skulptur und grafischen Arbeiten. Die sechs Lithographien in der Ausstellung zeigen, welche Ausdrucksmöglichkeiten gerade letzteres Medium mit seinen feinen Schattierungen und Tonalitäten bietet.
Ein scheinbar simpler Akt, das Falten, prägte das Schaffen des deutschen Künstlers Hermann Glöckner (1889–1987). Die geometrischen Figuren seiner abstrakten Papierarbeiten gewann Glöckner, indem er ein Blatt mehrmals knickte und die so freigelegten Flächen mit Farbe bestrich. Diese Vorgehensweise ist heute noch an den zahlreichen Knicken der Blätter ablesbar: „Man benötigt ganz bestimmtes Papier dazu, das die Faltungsbrüche aushält und den Bruch trotzdem scharf sein lässt. Die Brüche bleiben erhalten, und jeder kann sehen, wie das Blatt entstanden ist,“ erläutert der Künstler 1983. Glöckner untersuchte von Flächen gestaltete dreidimensionale Gebilde nicht allein auf Papier und Leinwand, sondern ebenfalls anhand von Plastiken.
Die Linie ist eigentlich das charakteristische Ausdrucksmittel der Zeichnung. Norbert Kricke (1922–1984) und Fred Sandback (1943–2003) überführten sie in die dreidimensionale Skulptur. Kricke erkundete zunächst in seinen Zeichnungen die freie Bewegung der Linie im Raum – und übertrug sie schließlich in seine aus Stahldraht gebogenen Plastiken.
Auch Fred Sandback gelangte auf der Suche nach einem skulpturalen Körper ohne feste Masse, ohne Inneres, zur Linie. In seiner ersten Plastik zog er 1967 mit Stahldraht und Gummischnüren die Umrisse eines plastischen Körpers nach. Noch im selben Jahr weiteten sich Sandbacks Skulpturen auch auf Wände und Decken aus, wo er mit Schnüren verschiedene Varianten von U-Formen, Diagonalen und Rechtecken spannte. Die so entstandenen Module sind in der Grafikmappe Twenty-Two Constructions from 1967 (1986) versammelt.
Die lineare Form kennzeichnet auch die offenen Strukturen, die Sol LeWitt (1928–2007) seit 1964 entworfenen hat. Das Modell Maquette for Seven Cubes Half Off bildete den Ausgangspunkt für die monumentale Skulptur Open Cubes (1991), die in der Innenstadt Frankfurts zu sehen ist. Seine Experimente mit Raster- und Raumstrukturen führte LeWitt zudem in etwa 300 druckgrafischen Projekten fort, wie in der Linolschnitt-Serie Distorted Cubes (A-E). Die unterschiedlich großen, im Raum schwebenden Würfel erscheinen hier allein durch die Wirkung der Farben dreidimensional.
Auch James Turrell widmete sich der illusionistischen Dreidimensionalität geometrischer Körper, sein Werkzeug war das Licht. Die Aquatintadrucke der Serie Still Light (1990-1991) gehen auf Turrells Projection Pieces aus den Jahren 1966 bis 1967 zurück, bei denen Licht in Form von geometrischen Körpern auf Ecken abgedunkelter Räume geworfen wurde. So erzeugte er den Eindruck eines grell leuchtenden Objekts, mal auf dem Boden aufsetzend, mal schwebend.
Wie einst Moholy-Nagy, so untersuchte auch Blinky Palermo (1943–1977) – allerdings 50 Jahre später – die räumliche Wirkung transparenter, geschichteter Farbformen. Bei seinen Fünf Miniaturen (1972) überschreiten die Kanten der gedruckten, abstrakten Formen die Grenzen der Bildfläche und machen so die Schichtung der Farben – und damit eine räumliche Ordnung – sichtbar.
Während Palermos Drucke auf feinen Farbschichten beruhen, überlagerte sein Freund Imi Knoebel (*1940) abstrakte Formen in dicken, opaken Farbschichten. Die glatten Flächen der Siebdruck-Reihe Rot Gelb Blau erinnern an seine reliefartigen Wandarbeiten.
Dicke Farbkrusten kennzeichnen die Reliefs der Radierungen Lucio Fontanas (1899–1968) aus dem Jahr 1964. Die extrem hohe Kraft, die auf das Papier während des Druckens einwirkte, führte zu Rissen und Löchern, die Fontana im Nachhinein zusätzlich vertiefte: „Mit meiner Neuerung eines Loches, das in Anordnungen durch die Leinwand gestoßen wird, […] habe ich nicht angestrebt, eine Oberfläche zu dekorieren, sondern im Gegenteil, ich habe versucht, seine dimensionalen Beschränkungen zu durchbrechen“, so Fontana.
Kombiniert werden die Prägedrucke mit Werken des in Rüsselsheim geborenen Künstlers Michael Riedel (*1972). Dessen raumbezogene Arbeiten umfassen nahezu sämtliche Medien, darunter Zeichnungen auf Transparentpapier, Wandbehänge aus Stoff und ganze Räume vereinnahmende Schriftbilder. Die geschlitzten Stoffe und die Rauminstallationen werden in Form von Postkarten und auseinandergefalteten Raummodellen zurück in die Fläche überführt.
Zerstückelung und Dynamik, die Relationen zwischen Volumen und Form, das Fehlen von Grenzen, von Innen und Außen: Diese Charakteristika kennzeichnen die Druckgrafiken und Skulpturen des spanisch-baskischen Bildhauers Eduardo Chillida (1924–2002). Die Leere wird in seinem Werk nicht als Mangel verstanden: Sie bringt Raum hervor. Chillida nutzt die Leere – wie bereits Kricke und Sandback – als plastisches Material. Der Künstler stand in einem intensiven Austausch mit Martin Heidegger (1889–1976). In dem Essay Die Kunst und der Raum (1969) fragt der Philosoph: „Ist die Plastik eine Besitzergreifung von Raum, eine Beherrschung des Raumes? Entspricht die Plastik damit der technisch-wissenschaftlichen Eroberung des Raumes?“
Der Logik, dem Messbaren, entzieht sich Chillidas Raumkonzept. Genauso wie auch die übrigen, hier versammelten Raumkonzepte allesamt versuchen, Raum neu zu denken.
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