Ein bisher einzigartiges kunsthistorisches Projekt erforscht derzeit die deutsche Kunstszene im Zeitraum von 1960 bis 1989 – aus der Perspektive von Zeitzeugen.
Mit Ende des Zweiten Weltkriegs war es eine der zentralen Herausforderungen, die mögliche Wieder- bzw. Neudefinition einer Identität Deutschlands anzudenken und zu gestalten. Auch die Bildende Kunst – und damit natürlich ihre Protagonisten – wurde Teil dieses komplexen Prozesses. Trotz anspruchsvoller Überblicksausstellungen und Publikationen zur deutschen Kunst nach 1945, fehlt bis heute eine umfassende Dokumentation dieser historischen Vorgänge aus der Perspektive der Zeitzeugen und damaligen Akteure. Bisher richtete sich der Blick der Kunstgeschichte primär auf die Werke, zum Teil auch auf einzelne Personen, vorrangig die Künstler. Nur gelegentlich rückten weitere Protagonisten in den Fokus. Mit dem Forschungsprojekt am Städel Museum, das durch die langfristige Unterstützung der Art Mentor Foundation Lucerne ermöglicht wird, soll nun erstmals der Fokus auf das künstlerische Umfeld der ersten Nachkriegsgeneration gerichtet werden, die häufig geprägt durch Armut und Verlust in den Trümmern der deutschen Städte aufwuchs. Zu Beginn der 1960er-Jahre steht die deutsche Kunstszene vor einem Neubeginn, aber auch vor der Aufgabe, ein kulturelles Erbe, das durch die Nationalsozialisten vernichtet, verschleppt und verfemt wurde, zu retten, zu bewahren und weiterzuführen. 1989 endet das Zeitfenster der Untersuchung: Mit zunehmender Internationalisierung und der geografischen Öffnung bzw. der Wiedervereinigung Deutschlands erweitert und wandelt sich die deutsche Kunstszene und setzt neue Maßstäbe.
In Gesprächen mit circa 100 Künstlern, Galeristen, Sammlern, Kuratoren und Vermittlern, die seit den 1960er-Jahren maßgeblich an der Entwicklung der Kunstszene in der Bundesrepublik mitgewirkt haben, werden wichtige Stationen der jüngsten deutschen Kunstgeschichte gemeinsam betrachtet und erörtert. Über die dokumentierte individuelle Sicht der Zeitzeugen wird eine Annäherung an die historische Situation und damit ein Gesamtverständnis vergangener Geschichtsmomente im Umfeld der aufstrebenden deutschen Kunstszene angestrebt.
Anhand von qualitativen Interviews mit den Protagonisten ergibt sich in der vernetzten Zusammenschau dieses Projekts ein komplexes Informationsgeflecht über die Entwicklung der Kunstszene in der Bundesrepublik. Von hier aus wird die historische Situation aus vielfältigen, sich ergänzenden, überlagernden und teilweise auch sich widersprechenden Perspektiven beleuchtet. Ziel ist es, narrative Daten zu ermitteln, um künstlerische Werdegänge, die Beziehungsstrukturen im Feld der Kunstszene der betreffenden Zeit, Gruppenbildungen und besonders wichtige künstlerische Prozesse und Ereignisse zu rekonstruieren. Die Ergebnisse werden zunächst online in einer verschlagworteten Datenbank innerhalb der nächsten zwei Jahre sukzessive zugänglich gemacht.
Gab es um 1960 europaweit nur einige wenige Galerien, die progressive Gegenwartskunst vertraten und förderten, änderte sich die Situation innerhalb des Jahrzehnts rasant und fand 1967 mit der Gründung des Kölner Kunstmarkts einen ersten Höhepunkt: 18 Galerien nahmen teil und machten mit mehr als 15.000 Besuchern eine Million D-Mark Umsatz. Diese Messe, die seit 1984 unter dem Namen Art Cologne stattfindet, ist heute die weltweit älteste noch bestehende Messe für Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Rolle solch einflussreicher Galeristen wie Rudolf Zwirner, Konrad Fischer, Heiner Friedrich oder Michael Werner und ihre mächtigen Programmgalerien, die Kunstrichtungen formten und förderten, finanzierten und gewinnbringend platzierten, gehören daher ebenso zum Kern des Forschungsprojekts wie die Künstler, die sie vertraten: Sie stehen für ein komplexes Geflecht von Idealismus und unternehmerischem Ethos – in einem historischen Moment, der wirtschaftlich wie künstlerisch zu den spannendsten in der bundesdeutschen Geschichte gehört. Zwar gab es immer wieder Ansätze, durch Interviews mit Zeitzeugen bestimmte Informationen zu sichern. Nie aber wurde der Versuch unternommen, ein weitgefächertes Netzwerk verschiedener Akteure des Kunstbetriebs von Anfang an zum Untersuchungsgegenstand zu machen. Was sich bereits nach wenigen Monaten und über 50 geführten Interviews beobachten lässt, ist ein sich stetig vergrößerndes und weiter ausdifferenzierendes Beziehungsgeflecht, das von Überschneidungen und Parallelitäten gleichermaßen durchzogen ist.
Ausgehend von den in der Städelschen Sammlung zur Gegenwartskunst vertretenen Künstlern, wird das Spektrum der Zeitzeugen um weitere Protagonisten, die an der Entwicklung der Kunstszene in Deutschland seit den 1960er-Jahren maßgeblich mitgewirkt haben, erweitert. In Einzelgesprächen werden die Zeitzeugen mit historischen Ereignissen im Kontext der Kunst konfrontiert. Ein solches Ereignis war beispielsweise die documenta 5, die 1972 unter der künstlerischen Leitung Harald Szeemanns stattfand. Bis heute zählt diese Ausstellung zu den einflussreichsten Präsentationen Moderner Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit namenhaften Künstlern wie Georg Baselitz, Joseph Beuys, Hanne Darboven, Hans Haacke, Rebecca Horn, Jörg Immendorff, Palermo, A. R. Penck, Sigmar Polke, Klaus Rinke, Katharina Sieverding, Klaus Staeck, Gerhard Richter oder Franz Erhard Walter, waren in dieser Ausstellung bereits viele der Künstler vertreten, die heute zu den bedeutendsten und einflussreichsten in Deutschland gehören. An der Konzeption der 5. documenta beteiligt war neben Harald Szeemann ein ganzer Stab von „Machern“, darunter Jean-Christophe Ammann, Bazon Brock, Klaus Honnef und Kasper König. Jeder Einzelne von ihnen hat einen individuellen Weg beschritten, immer wieder sind sie sich begegnet, stetig haben sich neue Teams gebildet, zwischen Ausstellungsmachern und Künstlern, zwischen Galeristen und Sammlern und vice versa.
In den Gesprächen wird diesen Begegnungen und Verbindungen nachgegangen. Denn während die historische Rezeption der Öffentlichkeit in den Berichten der Medien dokumentiert ist, wurde die Rezeption der Beteiligten bis heute weder umfassend betrachtet noch festgehalten. Durch die vielen unterschiedlichen Stimmen soll dieser subjektive Blick aus der Erinnerung heraus möglichst ungefiltert und spontan erfasst werden. Damit wird auch über 40 Jahre später nachvollziehbar, was neben den bislang überlieferten und häufig übernommenen Anekdoten und Geschichten für die einzelnen Protagonisten damals Relevanz hatte und bis heute hat. Durch die Aufarbeitung dieser wichtigen Zeitdokumente sollen sich innovative kunsthistorische Fragestellungen entwickeln, die einerseits in der Städelschen Sammlung der Kunst nach 1945 Anwendung finden werden und andererseits weit über die eigene Sammlung hinaus gerade auch über die digitale Verbreitung einer internationalen „Scientific Community“ zugänglich gemacht werden und als Anregung für neue Forschungen dienen sollen.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.