Ottilie W. Roederstein war keine Avantgardistin und setzte doch neue Maßstäbe: Als Künstlerin ging sie eigene Wege und ließ bürgerliche Konventionen hinter sich.
Als Ottilie W. Roederstein im August 1891 nach Frankfurt am Main kam, um sich in der aufstrebenden Bürgerstadt als Porträtmalerin niederzulassen, war sie bereits eine international beachtete und erfolgreiche Künstlerin. Nach ersten Lehrjahren in Zürich und Berlin hatte sie sich in der Kunstmetropole Paris ausbilden lassen.
Dort waren ihre Werke bald auf den wichtigen Salon-Ausstellungen zu sehen und wurden ausgezeichnet. Für das ganzfigurige Porträt der damals bekannten Pianistin Miss Mosher erhielt Roederstein auf der Internationalen Weltausstellung von 1889 sogar eine Silbermedaille. Die Kunstkritiker waren nicht nur in Deutschland voller Lob für ihre Arbeiten.
Dass die Künstlerin heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, mag auch daran liegen, dass sich ihr stilistisch äußerst vielfältiges Werk einer Einordnung in die europäische Kunstgeschichte, die oft nur als eine Aneinanderreihung avantgardistischer Strömungen erzählt wird, entzieht.
Bereits mit der Wahl ihrer Lehrer Jean-Jacques Henner und Carolus Duran, die in Paris als Porträtisten der Bourgeoisie große Erfolge feierten, legte Roederstein sich früh auf einen gemäßigten Stil fest. Weder zu akademisch, noch zu avantgardistisch. Damit war sie keine Ausnahme, sondern entsprach – wie die große Mehrheit der Künstlerinnen und Künstler – dem Zeitgeschmack. Trotzdem blieb sie während ihrer langen Karriere für neue Tendenzen aufgeschlossen und integrierte symbolistische, altmeisterliche und später impressionistische Einflüsse in ihre ganz „eigene Handschrift“. In ihrem Spätwerk gewannen stilistische und maltechnische Experimente mehr Gewicht, den Weg in die Abstraktion ging sie jedoch nie.
Für ihre Zeitgenossen vertrat Roederstein mit ihrer Kunst und mit ihrem Selbstverständnis als professionelle Malerin dennoch eine bemerkenswert moderne Position. Schon 1897 schrieb die Londoner Zeitung über sie:
Der Schriftsteller und Kunstförderer Moritz Goldschmidt, der den zitierten Artikel verfasste, formulierte damit sehr treffend, was die Künstlerin ausmacht. Roederstein erarbeitete sich nicht nur ein sicheres Einkommen und finanzielle Unabhängigkeit als Porträtistin. Vielmehr rang sie darum, jenseits der starren Geschlechterkategorien des 19. Jahrhunderts als Künstlerin anerkannt zu werden. Allein die Qualität ihrer Werke sollte überzeugen. Unabhängig davon, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschaffen wurden.
Kein Bild in Roedersteins Schaffen drückt diesen Anspruch besser aus, als das 1894 entstandene Selbstbildnis mit roter Mütze. Es ist das erste Selbstporträt, das sie öffentlich ausstellte. Noch im Entstehungsjahr wurde es im Pariser Salon einem großen Publikum präsentiert. Das starke Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Kontrast), die Betonung des aufmerksamen Blicks und das rote Barett sind als Zitat der von weltberühmten Malern geprägten Porträttradition zu verstehen.
Sie verweisen auf im 19. Jahrhundert weithin bekannte Werke von Rembrandt, Raffael oder Tizian. Roederstein misst sich auf diese Weise mit einer Reihe höchst erfolgreicher und bewunderter männlicher Künstler.
Roederstein wählte zudem eine besondere Maltechnik: die Ei-Tempera, eine alte, auf die italienische Renaissance zurückreichende Malweise. Sie war lange in Vergessenheit geraten und schwer zu erlernen, da die Ausführung deutlich komplizierter ist, als bei der im 19. Jahrhundert verbreiteten Ölmalerei.
Die am oberen Bildrand angebrachte Inschrift „O. W. Roederstein peinte par elle même 1894“ [O. W. Roederstein, gemalt von sich selbst 1894] macht ganz unmissverständlich klar – im Französischen deutlicher als in der deutschen Übersetzung –, hier handelt es sich um eine Frau, die als professionelle Künstlerin wahrgenommen werden möchte. Eine, die ihr Handwerk mit Bravour beherrscht, die die kunsthistorischen Vorbilder studiert hat und auf Augenhöhe mit den männlichen Kollegen agiert.
Im 19. Jahrhundert war das alles andere als üblich. Die damalige Gesellschaftsordnung dachte Mädchen ausschließlich die Rolle als Ehefrau und Mutter zu. Selbständig und unabhängig? Ganz im Gegenteil: Lange durften Frauen sich nur mit einem männlichen Vormund in der Öffentlichkeit bewegen. Entfaltung individueller Interessen und schöpferisches Talent? Nicht wirklich. In Deutschland war Frauen der Zugang zu den Kunstakademien bis 1919 untersagt. Malen war ein Zeitvertreib für wohlhabende Damen, ähnlich wie Musizieren oder Handarbeiten. Bestenfalls das Kopieren bekannter Meisterwerke oder das Dekorieren kunsthandwerklicher Gegenstände traute man dem weiblichen Geschlecht zu.
Wenn die Kunstkritiker Roederstein angesichts der Qualität ihrer Werke „männliches Talent“ bescheinigten oder in Bezug auf eines ihrer Porträts feststellten, „nun beginnen die Frauen zu malen wie die Männer“, war das durchaus lobend gemeint. Sie bestätigten jedoch im Umkehrschluss die Vorurteile, gegen die sich nicht nur Roederstein, sondern Berufskünstlerinnen allgemein behaupten mussten. Und sie machen deutlich, wie sehr das Stereotyp des männlichen Künstlergenies zum Bewertungsmaßstab geworden war.
Vor diesem Hintergrund ist Roedersteins Selbstporträt mit roter Mütze als ein sehr selbstbewusstes Statement zu interpretieren. Sie unterstrich damit ihre Rolle als professionelle Malerin und ihren Anspruch auf einen Platz im männlich dominierten Kunstbetrieb.
Indem sie sich abseits der zahlreichen Porträtaufträge in freien Arbeiten auch religiösen oder historischen Themen widmete, begab sie sich ebenfalls auf ein ursprünglich den männlichen Kollegen vorbehaltenes Terrain. Derartige Kompositionen setzten Aktstudien nach dem lebenden Modell voraus. Während diese für angehende Künstler ganz selbstverständlich einen wesentlichen Teil des Unterrichts ausmachten, versuchte man junge Malerinnen aufgrund der vorherrschenden Moralvorstellungen lange davon auszuschließen.
In der Kunstmetropole Paris lagen die Dinge bereits in den 1880er Jahren etwas anders. Die französische Hauptstadt war nicht nur das kulturelle Epizentrum Europas, sondern auch für eine liberalere Gesellschaft bekannt. Zwar nahm auch die renommierte Pariser École des Beaux-Arts Frauen erst um die Jahrhundertwende zum Kunststudium auf, doch etablierten sich in der Stadt bereits ab den 1870er Jahren zahlreiche Privatakademien und sogenannte Damenateliers, an denen sie Zeichen- und Malunterricht nehmen konnten. Dort bot man auch Kurse im Aktzeichnen an. So strömten Ende des 19. Jahrhunderts Künstlerinnen aus allen Teilen Europas, aus Russland und den USA nach Paris, um Ausbildungs- und Ausstellungsmöglichkeiten wahrzunehmen, die sie in ihren Heimatländern so nicht vorfanden.
Roederstein begnügte sich jedoch nicht mit den gegebenen Möglichkeiten, sondern erarbeitete sich innerhalb der patriarchalen Strukturen ihrer Zeit weitere Freiräume. Sie knüpfte Freundschaften und Verbindungen zu Kolleginnen und Kollegen, um jenseits der sich formierenden Berufsverbände ein stabiles Netzwerk der wechselseitigen Unterstützung und Zusammenarbeit aufzubauen. Man teilte sich ein Atelier, vermittelte sich untereinander Porträtaufträge und half sich bei der Vorbereitung von Ausstellungen. So stellte Roederstein, als sie selbst längst finanziell erfolgreich war, ihre Pariser Atelierwohnung – die sie bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs behielt – unter anderem der jungen deutschen Malerin Ida Gerhardi zu Verfügung.
Auch in Frankfurt, wo Roederstein an der Städelschule ein Atelier unterhielt, wurde sie schnell zu einer festen Größe des Kunstbetriebs. Als Lehrerin, Sammlerin und als Mitorganisatorin wichtiger Ausstellungen nahm sie Einfluss auf das kulturelle Leben der Stadt. Nicht nur als Künstlerin, auch im täglichen Leben hielten gesellschaftliche Konventionen Roederstein nicht davon ab, ihren eigenen Weg zu gehen. Sie reiste ohne männliche Begleitung, ging auf Bergtouren und heiratete nie. Denn eine Ehe hätte nach damaligem Verständnis höchstwahrscheinlich das Ende ihrer Karriere bedeutet. Stattdessen lebte sie mit ihrer Lebensgefährtin Elisabeth H. Winterhalter zusammen, deren Lebenslauf als Ärztin und Vorkämpferin für die Mädchen- und Frauenbildung ebenso bemerkenswert ist.
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