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Ein Porträt und sein Verlust

Ottilie W. Roedersteins Porträt des Frankfurter Dermatologen Karl Herxheimer kam 1952 als Schenkung in die Sammlung. Wer war die Schenkerin? Und wie gelangte das Gemälde in ihren Besitz?

25. Mai 2023

Karl Herxheimer (1861–1942) zählte zu den führenden Ärzten seiner Zeit. Er war der erste Direktor der Frankfurter Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten, die er von 1894 bis 1930 leitete, und Mitbegründer der Universität. Das „Bildnis Prof. Herxheimer“ von Ottilie W. Roederstein zeigt ihn um 1911. In diesem Jahr feierte der hoch anerkannte Wissenschaftler seinen 50. Geburtstag.

Das Porträt Roedersteins verewigt ihn im Dreiviertelprofil vor einem warmen graugrünen Hintergrund. Es zeigt ihn selbstbewusst in einem würdevollen schwarzen Anzug mit weißem Stehkragen. Er trägt einen markanten breiten Schnurrbart. Seine wachen blauen Augen scheinen den Betrachter zu fixieren. Ob es sich bei diesem Gemälde um ein Auftragswerk einer Person oder Institution anlässlich seines runden Geburtstags handelte oder ob Herxheimer die Künstlerin, die er persönlich kannte, selbst darum bat, ist leider nicht bekannt.

„vor seiner Ausreise nach Theresienstadt“

Wie aber kam sein Porträt nun in die Sammlung des Städel Museums? Ein handschriftlicher Brief einer gewissen „Mina Rode“ im Städel Archiv offenbart die tragische Herkunft des Gemäldes: „In meinem Besitz habe [ich] ein Bild von Geheimrat Prof. Dr. Karl Herxheimer, das er mir vor seiner Ausreise nach Theresienstadt Ende August 1942 geschenkt [hat]“, schrieb sie am 17. Oktober 1952 an den damaligen Direktor des Museums Ernst Holzinger. „Ich möchte das Bild, von O.W. Roederstein gemalt, dem Städelschen Kunstinstitut geben, da ich es gern in guten Händen wüsste.“

Mina Rode an Ernst Holzinger, 17. Oktober 1952, Sig. St.A. 2243, Städel Archiv

Verfolgt und entrechtet

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Herxheimer – seit 1929 emeritiert – als Jude verfolgt. Man entzog dem Professor 1933 seine Lehrerlaubnis. Ab 1938 durfte er nicht mehr praktizieren. Doch er wollte Frankfurt nicht verlassen, obwohl er in der Schweiz ein Haus besaß. Freunde konnten ihn und seine Haushälterin Henriette Rosenthal, die bei ihm lebte, schließlich im Sommer 1942 zur geheimen Flucht in die Schweiz drängen. Zu diesem Zeitpunkt galt jedoch bereits für sämtliche in Deutschland lebende Juden ein Ausreiseverbot und sie mussten den sog. „Gelben Stern“ tragen. Beide waren gezwungen, im Oktober 1941 in ein sogenanntes „Ghettohaus“ in der Friedrichstraße umzuziehen. Über ihr „sichergestelltes“ Vermögen konnten sie nicht mehr frei verfügen. Ihre engagierten Helfer besorgten ihnen gefälschte Pässe und arbeiteten einen Fluchtplan aus.

Das hochriskante Vorhaben scheiterte jedoch tragischerweise aufgrund eines Missgeschicks. Wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen eine anti-jüdische Vorschrift wurde Henriette Rosenthal – ein Nachbar hatte sie denunziert – von der Gestapo inhaftiert. Als sie die Nachricht der angeordneten „Ausreise“ nach Theresienstadt erreichte, befand sie sich im Gefängnis. Am 1. September 1942 wurde der über achtzigjährige Karl Herxheimer gemeinsam mit Henriette Rosenthal nach Theresienstadt deportiert. Dort erlag er am 6. Dezember 1942 einem Herzleiden. Henriette Rosenthal starb wenige Wochen nach ihm ebenfalls in Theresienstadt.

Mina Rode

Mina Rode (1873-1959), der Herxheimer sein Porträt vor der Deportation überlassen hatte, war eine bedeutende Frankfurter Violonistin. Jedoch sind nur wenige biografische Quellen zu ihr bekannt. Sie spielte auf einer Guarneri Geige, hatte das Hoch’sche Konservatorium besucht, trat international auf und erteilte später auch Musikunterricht. Eine Fotografie im Roederstein-Jughenn Archiv des Städel zeigt Rode in Gesellschaft eines mit Ottilie Roederstein befreundeten Frankfurter Ehepaars. War sie möglicherweise auch mit Roederstein bekannt?

Unbekannter Fotograf, Mina Rode (1. v.l.), Sig. St A. OR 21, Roederstein-Jughenn Archiv

Am Donnerstag müssen wir Frankfurt verlassen

Die unfassbaren Umstände, in denen sich Karl Herxheimer und Henriette Rosenthal in den letzten Tagen vor ihrer Deportation wiederfanden, sind anhand weniger Schriftstücke überliefert. So schrieb Henriette Rosenthal am 28. August 1942 an die Krankenschwester, die beide gepflegt hatte: „Dies ist zu unserem großen Schmerz ein Abschiedsbrief. Am Donnerstag müssen wir Frankfurt verlassen und nach Theresienstadt in Böhmen übersiedeln. Ein besonderer Weg.“

Aber auch die persönlichen Zeugnisse und Erinnerungen ihnen nahestehender Menschen geben einen kaum ertragbaren Einblick in diese schwere Zeit. Unter diesen Personen war auch Gertrud Roesler-Ehrhardt, geb. Blum (1896-1992), die Tochter des Mediziners Ferdinand Blum, der mit Karl Herxheimer befreundet war. Auch Blum war als Jude verfolgt und daher noch 1939 in die Schweiz emigriert. Er und seine Tochter, die nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ als sogenannte „Halbjüdin“ galt und ebenso wie Herxheimer im Frankfurter Westend lebte, waren in dessen Fluchtplan involviert gewesen. In ihrem Haus in der Arndtstraße 51 hatte sie bereits vor Kriegsbeginn begonnen, Verfolgte aufzunehmen und sie zusammen mit ihrer Schwester Pauline Jack und den britischen Schwestern Ida und Louise Cook bei der Emigration nach England unterstützt. Pauline Jack war ausgebildete Opernsängerin und Musikpädagogin. Es ist also denkbar, dass Rode zu ihren Kontakten gehörte.

Ein Porträt des Herrn Prof. Dr. Herxheimer

Roesler-Erhardt war es auch, die nach 1945 im Zuge des von den insgesamt 27 Erben Karl Herxheimers angestrebten Rückerstattungsverfahren gegen das Deutsche Reich als Zeugin herangezogen wurde (da Herxheimer selbst keine Kinder hatte und seine Ehefrau bereits 1928 verstorben war, erbten die Nachkommen seiner insgesamt elf Geschwister). In einer Anhörung vor dem Landesamt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung in Hessen gab sie folgendes zu Protokoll: „Ein Porträt des Herrn Prof. Dr. Herxheimer von der Malerin Ottilie Rödersheim [sic] habe ich noch am vorletzten Tag vor der Deportation an mich genommen.“ Könnte es sich bei diesem Roederstein Porträt Herxheimers tatsächlich um das Gemälde handeln, das Mina Rode dem Städel 1952 übereignete?

Diese Aussage ergibt im Abgleich mit der schriftlichen Äußerung Rodes, Herxheimer habe ihr das Porträt „vor seiner Ausreise nach Theresienstadt“ „geschenkt“ wohl nur Sinn, wenn Roesler-Erhardt es von Herxheimer für sie in Empfang genommen hätte. Dass Rode auf diese Weise in den Besitz des Porträts gelangt sein könnte und sich dabei auf eine Schenkung Herxheimers beruft, erscheint durchaus möglich, denn zu diesem Zeitpunkt drohte nicht-jüdischen Personen, die „freundschaftliche Beziehungen zu Juden“ zeigten laut Gesetz „aus erzieherischen Gründen“ die vorübergehende Schutzhaft.

Karl Herxheimer, Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main, S7P 06321

In memoriam

Ob Herxheimer sein Porträt Rode im Gegenzug für eine empfangene Hilfeleistung oder aus reiner Verzweiflung angesichts der drohenden Deportation überließ ist nicht mehr rekonstruierbar. Die Spuren bleiben trotz intensiver Recherchen uneindeutig. Rode schenkte das Gemälde 1952 unter Angabe seiner Herkunft dem Städel, weil sie es „in guten Händen wissen“ wollte. Da sich Herxheimer nachweislich verfolgungsbedingt von dem Gemälde trennen musste, hat das Städel Museum es in der Datenbank lostart.de als Fundmeldung registriert.

Das Porträt Roedersteins zeigt den Frankfurter Dermatologen auf der Höhe seines Erfolges und würdigt seine Größe. Gleichzeitig ist dem Gemälde, das er im August 1942 verlor, das tragische Verfolgungsschicksal des Dargestellten und einstigen Besitzers eingeschrieben. An beides zu erinnern ist Anliegen dieses Beitrags.


Iris Schmeisser ist Provenienzforscherin und leitet das Städel Archiv. Ihr Dank gilt Petra Bonavita und Henry-George Richter-Hallgarten für ihre freundliche Unterstützung bei dieser Recherche.

Mehr über das Leben und Werk der Porträtmalerin Ottilie W. Roederstein erfahrt ihr hier.

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