Navigation menu

Stoff für Geschichten

Die Ausstellung „Schaufenster des Himmels“ versammelt seltene Kostbarkeiten einer mittelalterlichen Altarraum-Ausstattung. Vier große, bestickte Textilien erscheinen heute besonders ungewöhnlich. Wir sprachen mit der Expertin Stefanie Seeberg über diese kaum bekannte Kunstform.

Sarah Omar — 1. August 2016

Ein abgedunkelter Raum empfängt den Besucher der Ausstellung „Schaufenster des Himmels“, darin leuchten die Ausstattungsstücke des mittelalterlichen Altenberger Altars: Retabel, Reliquarien, Goldschmiedearbeiten. Vier weiße, bestickte Stoffbehänge – manche fast vier Meter lang – stechen besonders hervor. Stefanie Seeberg ist eine der wenigen ExpertInnen für mittelalterliche Textilien. Sie hat ihr Wissen in die Ausstellung eingebracht – und hier mit uns geteilt.

Wenn man den Ausstellungsraum betritt, fallen diese vier riesigen weißen Textilien auf. Was hat es damit auf sich?

Dieser erste Eindruck vermittelt ganz gut die wichtige Rolle, die Textilien in der Ausstattung einer Kirche im Mittelalter gespielt haben und die uns heute gar nicht mehr bewusst ist. Stoffbehänge mit Bildern schmückten Altäre, Wände und viele Ausstattungsstücke wie Lesekanzeln, Gestühl und Heiligenfiguren. Dass textile Kunstwerke heute so wenig bekannt sind, liegt an der Empfindlichkeit des Materials. In Museen werden aus dem Mittelalter vor allem Werke der Goldschmiedekunst oder Elfenbeinarbeiten und, wie im Städel Museum, Tafelbilder gezeigt – Textilien dagegen viel seltener. Die hier ausgestellten großen Leinenstickereien ruhen normalerweise gut klimatisiert und vor Licht geschützt in den Depots der Museen.

Altardecke mit Weltgericht: Mit der digitalen Nachzeichnung (oben) sind die Bilder für den heutigen Betrachter besser zu erkennen (126,6 cm x 395,6 cm, Altenberg, um 1330, New York, The Metropolitan Museum of Art)

Altardecke mit Weltgericht: Mit der digitalen Nachzeichnung (oben) sind die Bilder für den heutigen Betrachter besser zu erkennen (126,6 cm x 395,6 cm, Altenberg, um 1330, New York, The Metropolitan Museum of Art)

Dem Ausstellungsbesucher erschließen sich die gestickten Motive nicht sofort. Was hat der mittelalterliche Betrachter gesehen?

Die gestickten Bilder und Inschriften waren für den mittelalterlichen Betrachter sehr gut zu erkennen. Die Stickereien erscheinen heute fast farblos, als ob alles Weiß in Weiß gearbeitet wäre. Detaillierte Analysen der Rückseiten mit dem bloßen Auge, dann aber auch unter UV-Licht und mit einem speziellen Spektral-Messgerät der Fachhochschule Köln zeigten, dass alle Konturen und Inschriften in dunkelblau gefärbten Fäden gestickt waren. Auf dem Elisabethbehang sind diese blauen Konturen noch heute gut zu erkennen, auch wenn die Farbe ausgeblichen ist.

Elisabethbehang (Detail, St. Petersburg, Eremitage)

Elisabethbehang (Detail, St. Petersburg, Eremitage)

Bei der Altardecke aus New York kann man unter UV-Licht auch noch gut sehen, dass einige der Inschriften ursprünglich mit dunkler Tusche direkt auf das Leinengewebe geschrieben und nicht gestickt waren. Um dem Ausstellungsbesucher einen Eindruck vom ursprünglichen Aussehen der Stickereien zu vermitteln, zeigen wir die Nachzeichnungen in der Ausstellung neben den begleitenden Wandtexten.

Eine der Decken zeigt eine Bildergeschichte. Worum geht es?

Sie meinen die Stickerei mit Szenen aus dem Leben der heiligen Elisabeth. Ja, der Vergleich mit einer Bildergeschichte ist gut und bringt uns das heute in vielen Aspekten ferne, etwas fremde Mittelalter näher. Dieser Bildbehang konnte wie ein großes Plakat, ein Stoffbanner an bestimmten Festtagen im Chor der Klosterkirche aufgehängt werden.

Elisabethbehang, Altenberg, 2. Hälfte 13. Jhd., ca. 98 x 217 cm, St. Petersburg, Eremitage

Entstanden ist er noch vor der Anfertigung des Altenberger Retabels in der Zeit der ersten Ausstattung der neu errichteten Klosterkirche. Er erzählt zum einen die Geschichte der Königstochter Elisabeth aus Ungarn, die Anfang des 13. Jahrhunderts als Heilige schnell sehr bekannt und beliebt wurde. Zum anderen erzählt sie aber auch viel von Elisabeths Tochter Gertrud und von Kloster Altenberg.

Wie wurden die anderen Decken verwendet?

Zwei der Decken waren Altardecken und wurden zu Festtagen auf den Altartisch vor das Retabel gelegt. Das Bildprogramm und die Stifterinschriften dieser Decken zeigen, dass sie als Ensemble mit dem Retabel gedacht waren. Damit sich der Ausstellungsbesucher diesen Zusammenhang besser vorstellen kann, haben wir den Altarblock maßstabsgetreu nach dem originalen noch in Altenberg vorhandenen Steinaltar für die Präsentation des Retabels nachgebaut.

3D-Rekonstruktion des mittelalterlichen Altenberger Altars

3D-Rekonstruktion des mittelalterlichen Altenberger Altars

Einige der Figuren haben – etwas profan beobachtet – Glupschaugen. Steckte dahinter eine Intention?

Figuren mit diesen „Glupschaugen“ finden sich auf einer der Altardecken, derjenigen aus Eisenach. Ursprünglich war die auffallende Wirkung dieser plastisch hervortretenden Augen noch viel stärker: Die Augen sind mit kleinen Leinenpäckchen hinterlegt und waren zudem noch farbig bemalt bzw. bestickt. Durch den räumlich tatsächlich „hervorstechenden“ Blick der gestickten Figuren wurde der Betrachter entweder durch den Blickkontakt mit den Figuren, die ihn anzusehen schienen, oder durch die betonte Blickrichtung der Figuren, der er folgen konnte, in seiner Bildbetrachtung angesprochen und zur Andacht angeregt.

Bestechende Blicke von rechts und links: Hervortretende Augen sollten dem Betrachter ein sinnlich-didaktisches Vorbild zur Andacht sein (Detail aus der Altardecke mit Lamm Gottes, Wartburg Stiftung, Eisenach)

Bestechende Blicke von rechts und links: Hervortretende Augen sollten dem Betrachter ein sinnlich-didaktisches Vorbild zur Andacht sein (Detail aus der Altardecke mit Lamm Gottes, Wartburg Stiftung, Eisenach)

Wie verbreitet waren solche Decken damals?

Textile – gestickte, gewebte oder gewirkte – Bilder waren Teil jeder Kirchenausstattung und bestimmten stärker, als wir heute vermuten, den Raumeindruck der Kirchen. Reiche Stickereien waren aber auf jeden Fall etwas Besonderes. Für die New Yorker Decke findet sich kaum ein Beispiel in vergleichbar hoher Qualität in faszinierender Kunstfertigkeit. Auffallend ist, dass es große weiße Decken sind, auf denen Bilder und Inschriften nur bei näherem Herantreten erkennbar werden. Das ist auch für eine Raumausstattung im Mittelalter nicht unbedingt selbstverständlich, und war schon damals auch eine deutliche Aussage. Leinen bedeutet auch Verzicht auf Farbe und kostbare Materialien wie Seide und Goldfäden. Es ist ein Bekenntnis zum Armutsideal, dem Gertruds Mutter, die hl. Elisabeth, gefolgt war.

Welche Rolle spielt das Thema in der Forschung?

In der Kunstgeschichtsforschung fanden Textilien weniger Beachtung. Sie wurden seit dem 19. Jahrhundert der angewandten Kunst zugeordnet und standen damit in der Gattungshierarchie immer hinter der Malerei und Skulptur. Seit einiger Zeit gibt es aber ein erstaunlich großes Interesse an historischen Textilien. Kein Wunder – wie man an dem Ensemble aus Altenberg zeigen kann, sind Textilien höchst spannend, künstlerisch anspruchsvoll und auch für unser Wissen von Gemälden und Bildhauerei sehr aufschlussreich. Ohne die gestickten Altardecken hätten wir keine Informationen zu den Stiftern der Altenberger Altarausstattung.

Was fasziniert Sie an den Decken?

Mich fasziniert vor allem, dass diese Stickereien sehr „gesprächig“ sind. Sie erzählen viel und teilweise ungewöhnlich direkt einerseits aus der Zeit, in der sie entstanden sind, andererseits aber auch von ihrem Gebrauch und ihrem Stellenwert im Lauf der Jahrhunderte: Der sehr gute Erhaltungszustand erzählt von der hohen Wertschätzung, die diese Textilien seit dem Mittelalter erfuhren. Gleichzeitig tragen sie mit Brand- und Wachsflecken und dünn gescheuerten Stellen deutlich Spuren ihres liturgischen Gebrauchs. Persönliche und politische Geschichte werden hier hautnah erlebbar.


PD Dr. Stefanie Seeberg hat mehrere Jahre über das Ausstattungsensemble der Klosterkirche Altenberg geforscht. Die Ergebnisse dieser Forschung sind in das Ausstellungskonzept eingegangen und wurden 2014 unter dem Titel „Textile Bildwerke im Kirchenraum“ publiziert. Die Vorbereitung und Realisierung der Sonderschau im Städel war und ist für sie ein besonderes Ereignis. Was sie 2014 nur beschreiben konnte, wird in der Ausstellung Realität: Die heute über die ganze Welt verstreuten Kunstwerke können hier wieder zusammen erlebt werden.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Städel | Frauen

    Marie Held: Kunsthändlerin!

    Teil 5 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • Fantasie & Leidenschaft

    Eine Spurensuche

    Bei der Untersuchung von über 100 italienischen Barockzeichnungen kamen in der Graphischen Sammlung bislang verborgene Details ans Licht.

  • Städel Mixtape

    Kann man Kunst hören?

    Musikjournalistin und Moderatorin Liz Remter spricht über Ihre Arbeit und den Entstehungsprozess des Podcasts.

  • Städel | Frauen

    Künstlerinnen-Netzwerke in der Moderne

    Kuratorin Eva-Maria Höllerer verdeutlicht, wie wichtig Netzwerke für die Lebens- und Karrierewege von Künstlerinnen um 1900 waren und beleuchtet deren Unterstützungsgemeinschaften.

  • Muntean/Rosenblum

    Nicht-Orte

    Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Kuratorin Svenja Grosser erklärt, was es mit Nicht-Orten auf sich hat.

  • Städel Mixtape

    #42 Albrecht Dürer - Rhinocerus (Das Rhinozeros), 1515

    Ein Kunstwerk – ein Soundtrack: Der Podcast von Städel Museum und ByteFM.

  • Alte Meister

    Sammler, Stifter, Vorbild

    Sammlungsleiter Bastian Eclercy und Jochen Sander im Interview zum neuen Stifter-Saal.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Städel Dach

    Hoch hinaus

    Die Architekten Michael Schumacher und Kai Otto sprechen über Konzept, Inspirationen und die Bedeutung des Städel Dachs für Besucher und die Stadt.

  • Gastkommentar

    Kunst und die innere Uhr mit Chronobiologe Manuel Spitschan

    Was sieht ein Chronobiologe in den Werken der Städel Sammlung?

  • Städel Digital

    Städel Universe: Von der Idee zum Game

    Im Interview gibt Antje Lindner aus dem Projektteam Einblicke in die Entstehung der hybriden Anwendung.

  • Engagement

    Die „Causa Städel“

    Was an Städels letztem Willen so besonders war und worauf man heute achten sollte, wenn man gemeinnützig vererben möchte.