Nur noch wenige Stunden bis zum 21. Dezember 2012, jenem Tag, an dem die Welt untergeht. Nein, dies ist nicht die Prophezeiung eines Sektenführers, keine obskure Illuminati-Verschwörungstheorie oder der nächste Hollywood-Blockbuster, sondern eine Annahme, die auf der astrologischen Zeitrechnung der Maya beruht. Grund genug für die Medien die allgemeine Endzeitstimmung auszurufen und den Weltuntergang zu beschwören. Die apokalyptischen Phantasmen, die sich derzeit in unseren Köpfen abspielen, sind in der Kunst schon längst gemalte Wirklichkeit.
In Samuel Colemans (1770–1845) Gemälde „Vor dem Weltuntergang“ verhängen schwarze Wolken eines tosenden Gewitters die Sonne, Blitze zucken und peitschender Regen geht auf die Erde nieder. In dem Werk, das – falls die Welt nicht untergeht – noch bis zum 20. Januar 2013 in der „Schwarzen Romantik“ zu sehen ist, sind die Bäume entwurzelt, der Erdboden gibt keinen Halt mehr und ganze Gebirgszüge stürzen in einzelnen Felsbrocken gen Tal. Der Erdball ist im Begriff sich aufzulösen. Doch zuvor verschlingt er jene Materialmassen, die ihm der Mensch zur Errichtung seiner Zivilisation entnommen hat. Heroische Denkmäler, stattliche Paläste, himmelhohe Türme, goldene Schätze – alles zerbricht in tausend Trümmer und versinkt in einem hitzigen Feuerschlund. Inmitten: William Shakespeare, würdevoll versteinert auf ein Pult gestützt. Seine Figur des Zauberers Prospero aus „Der Sturm“ nennt jene Zeilen, die Samuel Colman zu diesem Bild inspirierte:
And, like the baseless fabric of this vision, The cloud-capped towers, the gorgeous palaces, The solemn temples, the great globe itself, Yea, all which it inherit, shall dissolve; And, like this insubstantial pageant faded, Leave not a rack behind. We are such stuff As dreams are made on, and our little life Is rounded with a sleep."
William Shakespeare, The Tempest (Der Sturm), Act IV, Scene I.
Auch die Landschaftsmotive und der Sarg, der aus der Tempelanlage schießt, könnten auf Worte Prosperos zurückgehen, schildert dieser doch an anderer Stelle wie er die Sonne verfinsterte, Gebirge erzittern ließ und Gräber auf seinen Befehl ihre Rachen öffneten. Das Gemälde, entstanden in den Jahren 1836 bis 1838, ist allerdings mehr als eine bloße Illustration der literarischen Quelle. Dies zeigen die ins Schleudern geratene Kutsche und die frappierende Ähnlichkeit der Gebäude mit Londons Stadtansicht, die den dargestellten Untergang im 19. Jahrhundert verorten. Die unter der Shakespeare-Statue drapierten Allegorien der Künste, der Gott der Zeit Chronos und die Insignien der Macht verdeutlichen, was dem Betrachter längst klar ist: Nichts wird die Zeiten überdauern. Kein Reichtum, keine Macht, noch nicht einmal die Kunst.
Ist dieses Spektakel eine vorahnende Verbildlichung dessen, was uns am morgigen 21. Dezember blüht? Wohl eher nicht, es glaubt doch keiner wirklich an das Ende der Welt. Vielmehr ruft die Vorstellung bei gleichzeitigem Wissen um ihre Unwirklichkeit bei uns einen lustvollen Schauer hervor, der seit jeher den Reiz des Weltuntergangs ausmacht. Was aber trieb Samuel Colman an, diese apokalyptische Szenerie zu malen? Waren es bei ihm die gravierenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die ihn an der Berechtigung menschlicher Existenz zweifeln ließen? Oder war es sein Glaube? Ist doch die bildliche Darstellung der Apokalypse nach der Offenbarung des Johannes eines der wichtigsten Themen christlicher Kunst. Viel eher lässt sich jedoch ein Grund finden, der unserer heutigen Faszination sehr ähnlich ist: Englands Elite hechelte im 19. Jahrhundert dem nächsten, größtmöglichen Gefühl des Erhabenen und Unerreichbaren, das lustvolles Erschauern aus sicherer Distanz auslöst, nach. Diese ästhetische Erfahrung war im 18. Jahrhundert von Edmund Burke benannt worden und wurde im 19. Jahrhundert, wohl begünstigt durch die unsicheren Zeiten, immer stärker rezipiert. Weltuntergang war somit Trend. Ob William Turner, John Martin oder Thomas Cole – sie alle malten atemberaubende apokalyptische Landschaften, deren brausender Sog in Erstaunen versetzt. Die „poetische Landschaft“ ist dabei mit biblischen oder literarischen Themen aufgeladen, durch symbolische Elemente vermittelt. Glühende Farbigkeit, kontrastreiche Lichtführung und die Monumentalität der Landschaft zielen auf große Effekte. Samuel Colman bediente das Verlangen nach einer sublimen Empfindung durch die ausgefeilte Komposition und lupenreinen Realismus. Alleine, wie auf die Pferdeköpfe des schwankenden Denkmals am linken Bildrand der Regen prasselt, wie er kristallklar in weißlichem Blau gegen den bräunlich-roten Ton des Steins gesetzt ist, zeugt von seinem meisterhaften Können. Lange wurde der Brite Colman mit dem etwas jüngeren amerikanischen Namensvetter der Hudson River School verwechselt, so dass nur sehr wenig über ihn bekannt ist. Beim Anblick dieses Weltunterganges ist eigentlich unvorstellbar, dass er in Vergessenheit geraten konnte.
Dient uns Colmans Bild vorerst noch als schauerhafte Verbildlichung unserer Fantasie, so werden wir spätestens an Weihnachten erleichtert feststellen, dass wieder einmal alles beim Alten geblieben ist.
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