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Die Ewigkeit der Landschaft

Vom alten Mesopotamien bis zum jüngsten Irakkrieg: Ursula Schulz-Dornburgs Fotografien führen durch eine Sehschule, die uns die Geschichten der Menschheit nahebringt – genauso wie die Verwerfungen der heutigen Welt.

Martin Zimmermann — 9. August 2018

Ursula Schulz-Dornburg und ich haben viele Gespräche geführt und in unseren Erzählungen gemeinsam Länder bereist, in denen wir beide gearbeitet haben – sie als Fotografin, ich als Althistoriker. Viele meiner Gedanken zu Ursula Schulz-Dornburgs Werk gehen auf diesen Austausch zurück.




Ausstellungsansicht „Ursula Schulz-Dornburg. The Land In-Between“ im Städel Museum, Foto: Städel Museum


Ausstellungsansichten „Ursula Schulz-Dornburg. The Land In-Between“ im Städel Museum, Foto: Städel Museum

Ein eigentümlicher Ort im Südirak steht stellvertretend für eine Sichtweise auf die Welt, die uns freundschaftlich verbindet: ein Ruinenhügel am Euphrat, 200 Kilometer nordwestlich von Basra. Auf ihm befinden sich die Überreste der alten sumerischen Stadt Eridu, die einst im 6. Jahrtausend v. Chr. entstand und lange als Urstadt der Menschheit galt. In Eridu hatten nach sumerischer Vorstellung die Geschichte der Menschheit und der Wohlstand des Zweistromlandes ihren Ursprung. In den folgenden Jahrtausenden wanderte das Zentrum weiter nach Norden bis nach Babylon. Eridu zerfiel, und nur mehr Spuren ihrer einstigen Größe zeichnen sich heute im Boden ab.

Babylonische Tafel (Map of the World), Kunstharzabjuss, 2014, The British Museum, London, CC BY-NC-SA 4.0

Map of the World (Replikat), ca. 600 v. Chr., Kunstharzabguss (2014), The British Museum, London, CC BY-NC-SA 4.0

Das nahe dem Ruinenhügel gelegene Städtchen Nasiriya machte während des Zweiten Irakkrieges spektakuläre Schlagzeilen. 2003 geriet eine amerikanische Einheit in einen Hinterhalt, mehrere Soldaten starben oder wurden verwundet. Zu ihnen gehörte die 19-jahrige Jessica Lynch. Sie wurde Tage später aus einem Krankenhaus befreit und in ihrer Heimat als nationale Ikone weiblicher Tapferkeit gefeiert. Wenige Monate später musste allerdings eine Kommission zugeben, dass die Geschichte um die junge Soldatin anders verlaufen war: Sie hatte kein Martyrium erlitten, sondern die Iraker hatten sich um sie gekümmert und ihr das Leben gerettet.

2008 flog ein internationales Team von Wissenschaftlern mit einem Helikopter nach Eridu, um die Folgen des Irakkriegs für die antiken Ruinenhügel zu untersuchen. Die Gruppe der Wissenschaftler wurde geleitet von John Curtis, seinerzeit zuständig für die Altertümer im British Museum in London. Die Fotos, die man veröffentlichte, zeigen einen von Erosion gezeichneten, trostlosen Siedlungshügel inmitten einer weiten Wüstenlandschaft. Man muss in der Zeit weit zurückgehen, um sich ausmalen zu können, dass hier einst eine Stadt in wundervoller, von vielfaltiger Vegetation geprägter Landschaft existierte.

„Das Paradies ist hier nicht mehr“

Der nahe gelegene See von Hammar und die Marschlandschaften am Persischen Golf gelten als antikes Vorbild für die Beschreibung des Gartens Eden in der Bibel. Nach dem Ersten Irakkrieg setzte jedoch eine dramatische Veränderung ein. Als die Vereinigten Staaten 1991 in diesen Krieg eintraten, wagten die Schiiten in den Marschlandschaften einen Aufstand gegen das sunnitische Regime Saddam Husseins. Dieser schlug brutal zurück. Neben Massakern an der Zivilbevölkerung zählte zu seiner Vergeltung die Entwässerung der Marschlandschaft durch den Bau zweier Kanäle. Die ansässige Bevölkerung wanderte angesichts der Austrocknung ab, Pflanzen und Tierwelt wurden zerstört. Als beim Sturz Saddam Husseins 2003 die die Marschlandschaft wieder bewässert werden konnte, kehrte nur ein Bruchteil der ehemaligen Bevölkerung zurück, Flora und Fauna erholen sich kaum. „Das Paradies ist hier nicht mehr“ titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2014.

Diese Art der Erzählung, die durch die Jahrtausende und Zeitgeschichte führt, ist ein Zugang zu dieser Region, der mich mit der Künstlerin verbindet. Wir teilen das Interesse an Spuren, welche die Menschen in der Geschichte hinterlassen haben, genauso wie die Aufmerksamkeit für die aktuelle Situation. Die blutige Rache Saddam Husseins, das Schicksal Jessica Lynchs und die Expedition des British Museum lassen sich nicht unmittelbar mit der Geschichte des antiken Eridu verknüpfen, aber zumindest mit den Spuren der Stadt. Da eine große Meistererzählung nicht möglich ist, sollte man das Fragment genauer betrachten. So entstehen Erzählungen und eben Bilder, welche die Vieldeutigkeit menschlicher Existenz und Geschichte spiegeln. Sie geben dem Leser und Betrachter die Möglichkeit, selbst Verbindungen zu ziehen und am Stoff historischer Erinnerung mitzuweben.

Der Mensch im Mittelpunkt

Ursula Schulz-Dornburg fotografierte die Marschlandschaften 1980, kurz vor der Katastrophe. Später gab sie der Serie den Titel Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs. Die Bilder zeigen die alte, noch intakte Marschlandschaft mit Schilf und unendlichem Wasserreichtum. Archaisch anmutende Wohn- und Speicherhäuser verleihen ihr eine urzeitliche Wirkung. Der Horizont nahe der Bildmitte und die Spiegelungen sehr heller Wasser- und Himmelsflächen erzeugen eine luftig-magische Atmosphäre. Auch die wenigen Personen strahlen eine ernste und konzentrierte Ruhe aus, die sie aus der Zeit hebt.

Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg


Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg


Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg


Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg


Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg


Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg

Ursula Schulz-Dornburg, Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs, 1980, Barytabzüge, Privatsammlung, USA © Ursula Schulz-Dornburg

Obwohl sie oft nur aus der Ferne zu erkennen sind, vermitteln die Bilder eine kraftvolle Nähe zu den Menschen. Der Horizont, so die Künstlerin, sei für sie die Nulllinie der Menschheit. Der durchaus verstörende, paradoxe Eindruck, den die beinahe menschenleere Serie Verschwundene Landschaften, Irak, Marsh Arabs erweckt, beruht exakt auf der Verbildlichung dieser Aussage. Unmittelbar spürbar ist die Aufforderung, sich das Leben der Menschen in dieser Landschaft zu vergegenwärtigen. Der Betrachter wird durch solche Landschaftsfotos angeregt, durchaus demütig in die Ewigkeit der Orte zu schauen und die Flüchtigkeit der zarten historischen Spuren wahrzunehmen.

Die Bedeutung der Ewigkeit für Ursula Schulz-Dornburg wird auch sichtbar in den 2006 entstandenen Fotos vom Ararat, die sie von Khor Virap in Armenien aus aufgenommen hat. Der Berg ist ein Zeichen der ewigen Standhaftigkeit trotz wechselvoller Geschichte, von Noahs Arche über die Christianisierung, die Tragödie des Genozids an den Armeniern bis in die heutige Zeit. Ständig sich wandelnd in Licht, Wolken und Eis, scheint sich der Berg – gesehen durch das Auge der Fotografin – als unerreichbares Monument der Natur zu inszenieren.

Ursula Schulz-Dornburg, Ararat, 2006, 20,4 × 19,8 cm, Barytabzug © Ursula Schulz-Dornburg

Ursula Schulz-Dornburg, Ararat, 2006, Barytabzug, Leihgabe der Künstlerin © Ursula Schulz-Dornburg

Das thematisch so vielfältige Werk von Ursula Schulz-Dornburg wird durch inhaltliche Klammern und Bezüge zusammengehalten. Da ist zum einen das Reisen, nach Ost- und Zentralasien, Mesopotamien und Spanien. Die Entfernung, der Raum und das Fremde ermöglichen eine Wahrnehmung, die in der bekannten, alltäglichen Umgebung ausgeschlossen ist. Ich weiß aus Planungen einer gemeinsamen Reise, dass Ursula Schulz-Dornburg sich bei der Erkundung unbekannter Orte viel Zeit nimmt, sich buchstäblich umsichtig im unbekannten Raum orientiert.

Schließlich steht in allen Fotografien, sowohl in den Landschaften als auch in den Architekturen, der Mensch im Mittelpunkt. Es sind seine Räume und seine Spuren, denen Ursula Schulz-Dornburg nachspürt. Mit wacher Aufmerksamkeit beobachtet sie die sozialen Verwerfungen unserer Lebenswelt. Sie kann sich empören über die Art und Weise, wie im Ersten Weltkrieg der Nahe Osten nach Zerfall des Osmanischen Reiches zwischen Briten und Franzosen aufgeteilt wurde und welche dramatischen Folgen dies bis heute hat. Die alte Babylonische Weltkarte wurde gewissermaßen in der Mitte durchschnitten, und die 2003 vorgenommene Aufteilung des Iraks knüpft an diese alte Linie an. Ursula Schulz-Dornburg erinnerte mich an den Vertrag von Tordesillas im Jahr 1494. Portugal und Spanien teilten damals den Erdball durch eine Linie vom Nord- zum Südpol in eine spanische und eine portugiesische Hälfte – ebenfalls ein irritierender Akt menschlicher Selbstüberschätzung und politischer Arroganz.

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Es verwundert nicht, dass sich dieser sozial wie politisch interessierte Blick auf die Welt auch in Ursula Schulz-Dornburgs Fotografien spiegelt. Der Betrachter kann darin viele Schichten abtragen und Bezüge erkennen. Ihr künstlerisches Verdienst liegt nicht zuletzt darin: Nah am Menschen zu sein und dem Betrachter die Komplexität menschlicher Orte zu vermitteln – ihn in eine Sehschule für diese Orte, aber auch für die eigene Alltagswelt zu schicken.


Der Autor Martin Zimmermann ist Professor für Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und kennt die Fotografin seit vielen Jahren.

Dieser Text ist eine gekürzte Version seines Katalogbeitrags zur Ausstellung „Ursula Schulz-Dornburg. The Land In-Between“. Die Ausstellung läuft noch bis zum 9. September im Städel Museum.

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