Navigation menu

Im Schatten Rembrandts

Die niederländischen Zeichnungen des 18. Jahrhunderts sind meisterhaft, aber heute fast vergessen. Dabei spielten sie in der Zeit der Aufklärung eine wichtige Rolle – auch bei der Gründung des Städel Museums.

Martin Sonnabend — 30. September 2020

Rembrandt ist wohl der erste Name, der einem einfällt, wenn von niederländischer Kunst die Rede ist. Er steht beispielhaft für das 17. Jahrhundert, das „Goldene Zeitalter“ der Niederlande, das sicherlich nicht für alle golden war.  Dem jungen Staat, der sich gerade seine Unabhängigkeit erkämpft hatte, brachte es aber neuen Reichtum und politische Macht – und damit auch eine glanzvolle Blüte der bildenden Kunst.

Hundert Jahre später, im 18. Jahrhundert, spielte das Land in Europa politisch zwar kaum eine Rolle, aber die Kunstproduktion florierte weiterhin, dank wohlhabender Bürger und Kaufleute. Was aber war das für eine Kunst, die heute, zumindest im öffentlichen Bewusstsein, fast in Vergessenheit geraten ist?

Ausstellungsansicht Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz


Ausstellungsansicht Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Ausstellungsansichten Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz

Ausstellungsansicht Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz


Ausstellungsansicht Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz


Ausstellungsansicht Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts, Foto: Städel Museum – Norbert Miguletz


Das Städel Museum kann diese Fragen mit Werken aus dem eigenen Bestand beantworten, die nun in der Ausstellung „Schaulust“ versammelt sind. In der Graphischen Sammlung befinden sich fast 600 niederländische Zeichnungen, die im 18. Jahrhundert entstanden sind. Die schönsten und wichtigsten von ihnen wurden in den letzten Jahren wissenschaftlich aufgearbeitet. Dabei fällt auf, dass fast alle diese Blätter aus den Gründungssammlungen des Museums stammen. Sie wurden noch im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert erworben, also als „zeitgenössische Kunst“, und zwar vom Museumsgründer Johann Friedrich Städel und von Johann Georg Grambs, einem Frankfurter Juristen und Kunstsammler und dem ersten Vorsitzenden der Städelschen Stiftung.

Aert Schouman, Eine Spitzschwanz-Paradieswitwe und ein Dominikanerkardinal, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum  – U. Edelmann

Aert Schouman, Eine Spitzschwanz-Paradieswitwe und ein Dominikanerkardinal, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum – U. Edelmann

Die Zeichnungen stammen von Jacob de Wit, Cornelis Pronk, Jan van Huysum, Aert Schouman, Cornelis Troost, Jacobus Buys oder Jacob Cats, alles tüchtige Künstler und hervorragende Zeichner – aber ihre Namen sind heute fast nur noch den Spezialisten bekannt.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren die Niederlande stark von internationalen Einflüssen, besonders von französischer Kunst und Lebensart beeinflusst. Das schlug sich in eleganten, klassizistischen Zeichnungen nieder, die vielfach als Entwürfe für Wanddekorationen entstanden. In den 1720er-Jahren setzte aber eine neue Tendenz ein: Man wandte sich mehr und mehr dem eigenen Land, der eigenen Geschichte und der eigenen Kunst zu. Künstler reisten umher und hielten Bauwerke und bekannte Orte fest, man stellte Alltagssituationen und Szenen aus viel gespielten Theaterstücken dar oder zeichnete die beliebten Blumen- und Früchtestillleben und exotische Tiere mit einer fast wissenschaftlichen Genauigkeit.

Herman Henstenburgh, Blumengebinde, 1700

Herman Henstenburgh, Blumengebinde, 1700, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum – U. Edelmann

Auch gibt es etliche Zeichnungen, die Gemälde des 17. Jahrhunderts für Sammler kopierten. Vor allem aber liebte man Landschaftsdarstellungen, die das eigene Land in Szene setzten. Alle diese Zeichnungen verbindet, dass sie vollständig ausgeführt, also keine Skizzen oder Studien sind, kein Entwerfen und Erfinden mit dem Stift auf Papier, sondern vollendete „Bilder“, oft mit Wasser- und Deckfarben ausgeführt; eigentlich sind es kleine Gemälde.

Hendrik Kobell, Eine Antwerpener Pleit und andere Schiffe zwischen Noord-Beveland und Wolphaartsdijk, 1775

Hendrik Kobell, Eine Antwerpener Pleit und andere Schiffe zwischen Noord-Beveland und Wolphaartsdijk, 1775, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum

Die niederländischen Zeichnungen des 18. Jahrhunderts lassen sich nicht ohne ihre Sammler verstehen. Im Zeitalter der Aufklärung waren es die wohlhabenden Bürger, die ein großes Bedürfnis nach Bildung hatten – und damit genau nach dieser Art von Kunst.

Ein Beispiel ist Cornelis Ploos van Amstel, ein Holzhändler aus Amsterdam. Er engagierte sich in der Gründung von „Zeichengesellschaften“, in denen sich Künstler und Kunstliebhaber wie er trafen, Zeichnen übten und über die Geschichte der Kunst, besonders über die Geschichte der niederländischen Kunst diskutierten. Ploos sammelte in großem Umfang, vor allem Zeichnungen, alte und zeitgenössische, und er beauftragte befreundete Künstler, ihm Zeichnungen anzufertigen, zum Beispiel Kopien nach Gemälden in anderen Sammlungen.

Johannes Pieter de Frey, Bildnis einer Frau im Sessel, um 1790–1800, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum (links) Johannes Verspronck, Bildnis einer Frau im Sessel, ca. 1642 – 1645, Städel Museum, Frankfurt am Main, CC BY-SA 4.0, Foto: Städel Museum (rechts)

Johannes Pieter de Frey, Bildnis einer Frau im Sessel, um 1790–1800, Städel Museum, Frankfurt am Main (links) / Johannes Verspronck, Bildnis einer Frau im Sessel, ca. 1642 – 1645, Städel Museum, Frankfurt am Main, Public Domain, Städel Museum, Frankfurt am Main (rechts)

Im Haus Ploos van Amstels trafen sich andere Sammler, Künstler, Kunsthändler, reichten sich Zeichnungen über den Tisch, betrachteten sie und diskutierten. Solche Zusammenkünfte hatten einen eigenen Namen: „Kunstbeschauungen“. Zeichnungen waren ein Mittel, um sich – in einer Zeit, in der es noch keine fotografischen Reproduktionen oder kunstgeschichtliche Wissenschaft an den Universitäten gab – zu bilden und dabei gesellig zu unterhalten. Neben den dargestellten Themen besprach man die ausdrücklichen und verborgenen Hinweise auf die ältere Kunst, freute sich über die technische Meisterschaft und am unmittelbar sinnlichen visuellen Erlebnis.

Jan van Huysum, Eine Krabbe, 18. Jahrhundert, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum

Jan van Huysum, Eine Krabbe, 18. Jahrhundert, Städel Museum, Frankfurt am Main

Johann Friedrich Städel und Johann Georg Grambs in Frankfurt waren Bürger von der gleichen Art wie Cornelis Ploos van Amstel. Auch sie sammelten mit Hingabe, und dabei ging es ihnen genauso wenig um Glanz und Repräsentation, sondern um Bildung. Auch sie trafen sich mit anderen Kunstbegeisterten, sprachen über Qualität, die Zusammenhänge der Kunstgeschichte, und schulten so ihr Auge. Die niederländischen Zeichnungen des 18. Jahrhunderts waren dafür perfekt geeignet.

Jacob de Wit, Deckenentwurf: Flora und Zephyr, um 1725

Jacob de Wit, Deckenentwurf: Flora und Zephyr, um 1725, Städel Museum, Frankfurt am Main

Später, im 19. Jahrhundert, wurde diese Generation am Städelschen Kunstinstitut von einer neuen abgelöst, die sich nun für die Romantik interessierte und damit für das Entwerfen und Entwickeln, das Genialische. Den Gedankengängen der großen, berühmten Künstler wollte man in deren Zeichnungen auf die Spur kommen. Die Blätter, an denen die ältere Riege aus der Zeit der Aufklärung ihre Freude gehabt hatte, waren diesen jüngeren nun zu bildhaft, zu wörtlich.

Stattdessen und parallel zu dieser Entwicklung professionalisierte sich aber auch die Kunstforschung. Was vorher in kleinen Sammlerkreisen stattfand, verschob sich nun an die Universitäten. Die Zeichnungen des 18. Jahrhunderts respektierte man, bewahrte sie in der Sammlung, aber man erwarb in diesem Bereich kaum noch etwas dazu. So erklärt es sich, dass der Bestand an niederländischen Zeichnungen des 18. Jahrhunderts schon von den Gründern des Städelschen Kunstinstituts gesammelt worden ist. Bis heute ist die Sammlung die umfangreichste und bedeutendste außerhalb der Niederlande und Belgiens.


Martin Sonnabend ist Sammlungsleiter der Graphischen Sammlung bis 1750. Der Bestand niederländischer Zeichnungen des 18. Jahrhunderts wurde von Annett Sandford, Stipendiatin der Stiftung Gabriele Busch-Hauck, wissenschaftlich aufgearbeitet. Sie hat auch die Ausstellung „Schaulust“ kuratiert.

Schaulust. Niederländische Zeichenkunst des 18. Jahrhunderts“ ist bis zum 10. Januar 2021 in der Graphischen Sammlung des Städel zu sehen. Im neuen Studiensaal der Graphischen Sammlung können sich Besucherinnen und Besucher zudem Grafiken auf Wunsch vorlegen lassen. Informationen und Öffnungszeiten auf der Städel Website.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Interview mit Joachim Jacoby

    Städels Erbe

    Die Geschichte des Städel begann vor über 200 Jahren mit dem Kaufmann Johann Friedrich Städel, dessen Sammlung Tausende Zeichnungen umfasste.

  • Bernard Schultze, Ohne Titel, um 1953, Pastell, Bleistift, Feder in schwarzer und roter Tusche, Deckfarbe auf cremefarbenem Velin, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
    Deutsche Zeichnungen des 20. Jahrhunderts

    Vom Schicksal gezeichnet

    Ob in den Lazaretten des Ersten Weltkriegs oder unter der Überwachung des DDR-Staates – Künstler haben unter den widrigsten Umständen gezeichnet. Welche Rolle spielt die Zeichnung in politisch turbulenten Zeiten?

  • Maria Sibylla Merian: Buschrose mit Miniermotte, Larve und Puppe, 1679, Aquarell auf Pergament, Städel Museum
    Maria Sibylla Merian

    Frankfurts berühmte Tochter

    Vor 300 Jahren starb die Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian. Im Herbst widmet das Städel ihr eine Ausstellung. Kurator Martin Sonnabend über die außergewöhnliche Frankfurterin.

  • Antoine Watteau Studienblatt
    Kuratoreninterview zu Watteau

    „Das ist hochsensibel“

    Antoine Watteau sei ein Künstler, den man leicht übersehen könne, meint Martin Sonnabend, Kurator der Ausstellung „Watteau. Der Zeichner“. Warum man trotzdem genauer hinsehen sollte, erzählt er im Interview.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Städel | Frauen

    Marie Held: Kunsthändlerin!

    Teil 5 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • Fantasie & Leidenschaft

    Eine Spurensuche

    Bei der Untersuchung von über 100 italienischen Barockzeichnungen kamen in der Graphischen Sammlung bislang verborgene Details ans Licht.

  • Städel Mixtape

    Kann man Kunst hören?

    Musikjournalistin und Moderatorin Liz Remter spricht über Ihre Arbeit und den Entstehungsprozess des Podcasts.

  • Städel | Frauen

    Künstlerinnen-Netzwerke in der Moderne

    Kuratorin Eva-Maria Höllerer verdeutlicht, wie wichtig Netzwerke für die Lebens- und Karrierewege von Künstlerinnen um 1900 waren und beleuchtet deren Unterstützungsgemeinschaften.

  • Muntean/Rosenblum

    Nicht-Orte

    Anonyme Räume, flüchtige Begegnungen: Kuratorin Svenja Grosser erklärt, was es mit Nicht-Orten auf sich hat.

  • Städel Mixtape

    #42 Albrecht Dürer - Rhinocerus (Das Rhinozeros), 1515

    Ein Kunstwerk – ein Soundtrack: Der Podcast von Städel Museum und ByteFM.

  • Alte Meister

    Sammler, Stifter, Vorbild

    Sammlungsleiter Bastian Eclercy und Jochen Sander im Interview zum neuen Stifter-Saal.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Städel Dach

    Hoch hinaus

    Die Architekten Michael Schumacher und Kai Otto sprechen über Konzept, Inspirationen und die Bedeutung des Städel Dachs für Besucher und die Stadt.

  • Gastkommentar

    Kunst und die innere Uhr mit Chronobiologe Manuel Spitschan

    Was sieht ein Chronobiologe in den Werken der Städel Sammlung?

  • Städel Digital

    Städel Universe: Von der Idee zum Game

    Im Interview gibt Antje Lindner aus dem Projektteam Einblicke in die Entstehung der hybriden Anwendung.

  • Engagement

    Die „Causa Städel“

    Was an Städels letztem Willen so besonders war und worauf man heute achten sollte, wenn man gemeinnützig vererben möchte.