Antoine Watteau sei ein Künstler, den man leicht übersehen könne, meint Martin Sonnabend, Kurator der Ausstellung „Watteau. Der Zeichner“. Warum man trotzdem genauer hinsehen sollte, erzählt er im Interview.
Gemeinsam mit dem Teylers Museum in Haarlem widmen Sie Antoine Watteau eine Ausstellung – einem französischen Maler und Zeichner des 18. Jahrhunderts, der in Deutschland vergleichsweise unbekannt ist.
Martin Sonnabend: Wenn man über Watteau spricht, gibt es zwei auseinanderliegende Reaktionen. Leute, die mit Kunst zu tun haben, sagen in aller Regel: Oh, wie großartig. Andere wissen oft gar nicht, wer das ist. Dabei ist Watteau von der kunsthistorischen Bedeutung ein Künstler, der in die Liga von Rembrandt, Rubens, Michelangelo, Picasso, usw. gehört. Er hat nicht nur tolle Kunstwerke geschaffen, sondern war auch sehr einflussreich für die Kunst des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus.
Wie lässt sich dann diese deutsche Bildungslücke erklären?
Es gibt in Deutschland eine kleine Blockade, die geschmacksgeschichtlich erklärbar ist. Dabei war Watteau im 18. Jahrhundert in Deutschland, in Preußen, eigentlich ein Held. Friedrich der Große wollte für seine Schlösser in Potsdam und Berlin so viele Watteau-Gemälde wie möglich haben. Dann kamen der Klassizismus und die Romantik. In Deutschland hat man Watteau plötzlich in einen Topf mit dem Rokoko geworfen, einer Kunst, die man als frivol und leichtfertig empfand. Das Gemälde Die Einschiffung nach Kythera, das das Städel 1982 erworben hat, ist tatsächlich die erste Erwerbung eines Watteau-Gemäldes für eine öffentliche Sammlung in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Das ist schon eine bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte.
In Frankreich hingegen hat man Watteau im 19. Jahrhundert mit viel Schwung neu entdeckt. Durch seine spezifische Art zu arbeiten hatte er Einfluss auf Kunstrichtungen wie den Impressionismus und alles, was danach kam. Die französischen Künstler kannten ihn ganz genau. Man kann auch sagen: Watteau war immer ein Künstler für Künstler.
Dann erklären Sie doch mal dem Nicht-Künstler: Wer war Watteau?
Watteau war ein Quereinsteiger. Er kam aus der kleinen Provinzstadt Valencienne aus recht einfachen Verhältnissen, sein Vater war Dachdecker. Mit 18 Jahren soll er nach Paris gekommen sein. Er schlug sich zunächst als angestellter Künstler in verschiedenen Werkstätten durch und landete dann bei einem Maler namens Claude Gillot, der viel mit dem Theater zu tun hatte. Diese Begegnung war sehr wichtig für Watteau. Schließlich wechselte er in die Werkstatt von Claude Audran. Audran war Kustos für die königliche Gemäldesammlung, fertigte aber auch Dekorationen für ein gehobenes Publikum an. Watteau hatte durch ihn die Gelegenheit, sich unmittelbar mit den Werken der großen Meister auseinanderzusetzen. Zudem wurde er mit einer anspruchsvollen Klientel vernetzt.
Watteau muss ein sehr bescheidener, schüchterner Mensch gewesen sein. Er arbeitete anfangs abhängig, entwickelte aber das Gefühl, selbst etwas machen zu können. 1712 nahm ihn die Akademie, nachdem sie seine Gemälde gesehen hatte, als Mitglied auf. Damit kontte er unabhängig als Künstler arbeiten und verkaufen. Zwar hatte Watteau eigentlich nicht die richtige Ausbildung für diese offizielle staatliche Kunsteinrichtung, aber er präsentierte Gemälde, die auf das Bedürfnis nach einer neuen, zeitgenössischen Kunst antworteten. Da kam dieser junge Mann mit seinen Bildern, die vorher keiner gesehen hatte: kleine Gemälde, auf denen Leute im Park sind. Mehr ist nicht drauf. Dieses Bildthema nannte man Une fête galante, ein galantes Fest.
Was war das Neue an der „Fête galante“?
Watteaus offizielles Aufnahmestück war die Einschiffung nach Kythera, von der es insgesamt drei Versionen gibt: im Städel, im Louvre und in Schloss Charlottenburg in Berlin. Was sieht man hier? Liebespaare, die sich anschicken, eine Barke zu betreten, um zur Liebesinsel Kythera zu fahren. Mythologisch ist das die Insel, vor der Venus aus dem Schaum der Wogen geboren wurde. Man hat also ein mythologisches Thema, könnte also sagen: Historienmalerei. Jetzt sind die Leute aber alle zeitgenössisch gekleidet, sie kommen aus der Gegenwart. Zudem tragen sie Pilgerkleidung – da kommt das Theater ins Spiel. Tatsächlich kannte man das Motiv der Pilgerfahrt nach Kythera im damaligen Theater, dazu gab es ein berühmtes Stück. Man hat hier also eine Verschränkung von Mythologie und zeitgenössischem Theater.
Welche Bedeutung hatte das Theater für Watteau?
Man muss sich in die Zeit Ludwigs XIV. zurückversetzen: Als der 1715 stirbt, war er 70 Jahre lang Herrscher über Frankreich. Die Zeit ist geprägt von mühsam geführten Kriegen, der Hof erstarrt in einem feierlichen-pompösen Zeremoniell, alles ist sehr fromm – bedrückende Impulse also.
Dagegen existierte in Paris eine Theaterszene, die die krasse Gegenwelt dazu bildete. Alle Schichten der Gesellschaft flüchteten sich ins Theater, das begann mit den Jahrmärkten, hier gab es Musik, Tanzeinlagen, Akrobatik, Freizügigkeit. Es gab feste Theater, die Comédie-Française, und auch die Oper, für die gehobene Bevölkerung. Überall hatte Theater eine Ventilfunktion: Hier darf der schlimmste Schurkenstreich, der wildeste Gewaltexzess passieren, die tragischste Geschichte, der größte Blödsinn. Alles, was im wirklichen Leben nicht geht.
Watteau ist von diesem Millieu berührt. Schon seine frühen Zeichnungen zeigen Figuren aus dem Theater. Was genau in den Theatern der Zeit passiert ist, wissen wir natürlich nicht. Aber wenn man sich Watteaus Zeichnungen anschaut, bekommt man schon den Eindruck, dass dort ganz starke Emotionen gelebt wurden.
Kommen wir zu den Zeichnungen, um die sich die Ausstellung ja dreht. Wie hat Watteau Zeichnung eingesetzt?
Zeichnung ist das Medium, von dem er ausgeht. Watteau hatte seine Skizzenbücher angeblich stets griffbereit. Er zeichnete, was er sah, Figuren, die er einfach interessant fand. Es gibt Zeichnungen von Straßenknaben oder Händlern, von Soldaten, die nichts tun als warten. Für seine Gemälde hat Watteau einfach in sein Skizzenbuch geguckt und die Figuren dann oft eins zu eins ins Gemälde übertragen, eine kollageartige Kompositionsweise. Die Zeichnungen selbst entstanden ungeplant – im Widerspruch zur akademischen Regel.
Was besagt die Regel?
Für die Akademie war die Zeichnung die Kontrollmethode über die Bildherstellung. Um sicherzustellen, dass ein Kunstwerk auf professionellem Niveau hergestellt wurde, gab es ein ganzes System für Zeichnungen: Ideenskizzen, Kompositionsstudien oder Figurenstudien nach posierenden Modellen.
Watteau hat auch Modellstudien angefertigt, ist dabei aber ganz anders vorgegangen. Es wird berichtet, er habe einen Koffer mit Theaterkostümen für seine Modelle gehabt. Dann hieß es: „Bewegt euch frei!“ Ich gehe davon aus, dass er ihnen eine Art Thema vorgegeben hat: „Stellt euch vor, ihr seid im Park und macht ein Picknick.“ Irgendwann hat er vielleicht „Stopp“ gesagt und gezeichnet. Und zwar sehr schnell. Er hatte keine Idee für ein Gemälde, sondern fing etwas aus dem Leben ein.
Worum ging es Watteau in seinen Zeichnungen?
In interessiert nicht das Geplante, sondern das Gefundene. Es geht ihm um das Tatsächliche: einen Blick, eine Haltung, die sich unwillkürlich ergibt. Diesen Umgang mit den Modellen zum Beispiel kenne ich erst wieder bei Rodin – das ist Moderne. Wir können heute zwar den ganzen Kontext nicht mehr verstehen, also das Gefühlsleben, was die Menschen der Zeit auf die Bilder projiziert haben. Aber die Qualität des Unmittelbaren teilt sich heute ungebrochen mit. Diese Qualität ist letzten Endes das Zeitlose und das Moderne bei Watteau.
Wenn Sie von der Zeitlosigkeit der Zeichnungen sprechen: Gibt es eine, die Sie besonders berührt?
Es gibt hier im Städel eine wirkliche Meisterzeichnung – das teilt sich aber nicht so offen mit. Es ist die Zeichnung seines Freundes Vleughels, einem Maler. Die Figur verwendete Watteau später für ein Gemälde: Da stützt sie sich auf eine Stuhllehne. Auf dem Stuhl sitzt eine Frau, die ihre Gitarre stimmt. Der Mann steht da und hört. Der guckt nicht einfach nur irgendwo hin: Das ist ein Moment der Erfahrung.
Für die Zeichnung hat Watteau einen roten Stift und ein zartes Grau verwendet. Sie ist gleichzeitig Gewandstudie und Porträt. Eigentlich müsste das Porträt neben der schweren Draperie völlig untergehen, dabei schafft Watteau ein vollkommenes Gleichgewicht: Auf der einen Seite ist die Figur total lässig und entspannt, auf der anderen Seite hat sie Haltung. Und wenn man sich das Gesicht ganz genau anguckt... da gibt es so kleine scharfe rote Striche, die überhaupt nichts bezeichnen. Durch sie fängt das Gesicht aber erst an zu leben. Das ist hochsensibel.
Was da drinsteckt, ist gleichzeitig ein Grundverständnis für das, was Watteau mit seiner Kunst meint: Was macht Kunst mit uns? Mit dem Leben? Seine Figuren sind empfindsam, aber nicht larmoyant oder sentimental – die haben einen klaren Kopf und können sehr genau wahrnehmen. Sie ziehen letzten Endes Lebenssinn aus dieser Art des Musikhörens, Landschaf- oder Kunstbetrachtens. Das nimmt den Geist der Aufklärung vorweg.
Für heutige Sehgewohnheiten ist es vielleicht ungewohnt, dass so wenig in den Zeichnungen passiert.
Es braucht zugewandte Betrachter. Da kann man sehr leicht einfach so mal drüber hinweggehen, ohne sich berühren zu lassen. Watteau muss eine unglaubliche Wahrnehmung gehabt haben. Er zeigt keine Action, sondern oft Momente des Übergangs, wo etwas anfängt oder sich etwas ankündigt. Um das zu sehen, braucht man eine Weile. Aber dann vermittelt sich ganz viel. Das ist vielleicht auch ein Grund, um auf die Anfangsfrage nach seiner Bekanntheit zurückzukommen: Watteau ist ein Künstler, den man leicht übersehen kann – wenn man nicht genau hinguckt.
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