Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.
Das Städel Museum und der Lehrstuhl für Altersmedizin der Goethe Universität arbeiten derzeit an einer digitalen Anwendung von ARTEMIS. Wie und wann entstand die Idee zu ARTEMIS Digital?
Chantal Eschenfelder: Nach der ersten erfolgreichen Zusammenarbeit überlegten wir, wie wir das Führungs- und Workshop-Projekt ARTEMIS, das im Städel Museum stattfindet, auch Versorgungsinstitutionen, wie Kliniken und Pflegeeinrichtungen, anbieten könnten. Unser Ziel ist es, mit einer digitalen Anwendung eine größere Reichweite für das Angebot zu schaffen, um Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen weitere Möglichkeiten zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zu bieten.
Johannes Pantel: Wir hatten bereits bei unserem Vorläuferprojekt gesehen, wie gut eine spezielle Kunstvermittlung für Menschen mit Demenz aufgenommen wurde. Die Idee, diese Zusammenarbeit und Projektidee für eine digitale Anwendung weiterzuentwickeln, fanden wir äußerst spannend. Die spezielle Situation der sozialen Isolation durch die Pandemie, von der Menschen mit Demenz in besonderer Schärfe betroffen waren, verstärkte die Dringlichkeit dieser Idee. In dieser Phase kamen uns unsere Kontakte zugute, insbesondere zur Familie Schambach Stiftung, die bereits das erste Projekt gefördert hatte und nun den nächsten Schritt ins Digitale ermöglichte. Die Idee schien förmlich in der Luft zu liegen.
Chantal Eschenfelder: Gleichzeitig hatten wir am Städel Museum bereits viel Erfahrung in der Weiterentwicklung der digitalen Kunstvermittlung gesammelt. Aus diesen beiden Komponenten ergab sich für uns die unglaubliche Chance, etwas zu entwickeln, das in dieser Form im deutschen und europäischen Raum bisher nicht existierte – nämlich digitale Kunstvermittlung speziell für Menschen mit Demenz.
Wie können wir uns ARTEMIS Digital vorstellen? Welche Schnittstellen gibt es zu dem Erlebnis von ARTEMIS in den Museumsräumen? Und welche Elemente der Anwendung gehen darüber hinaus?
Chantal Eschenfelder: Um sich ARTEMIS Digital vorzustellen, ist es wichtig, zunächst das analoge ARTEMIS-Programm zu verstehen. Bei diesem Programm besuchen Menschen mit Demenzerkrankungen und ihren Begleitpersonen gemeinsam mit Kunstvermittlern das Museum. Dort finden Gespräche vor Kunstwerken in einer besonderen Museumsatmosphäre statt, gefolgt von praktischer Arbeit. ARTEMIS Digital hingegen ist eine völlig andere Erfahrung. Hier müssen wir eine ähnlich anregende Atmosphäre wie im Museum, aber auf digitale Weise schaffen, was viel schwieriger ist. Die Anwendung besteht aus verschiedenen Modulen. Wir verwenden Film, Ton, Texte, Bilder und viele interaktive Elemente, bei denen Dinge ausgewählt und geklickt werden können. Jedes Modul wird durch einen ruhigen filmischen Einstieg eingeleitet, begleitet von Musik, die die Stimmung setzt.
Was ARTEMIS Digital von anderen Anwendungen unterscheidet, insbesondere für Menschen mit Demenz, ist der Versuch, ein synästhetisches Erlebnis zu schaffen. Visuelle Elemente werden auch akustisch lebendig. Wenn beispielsweise Max Liebermanns Gemälde „Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus“ (1881–1882) gezeigt wird, hört man gleichzeitig Vogelgesang und Gespräche, die das Bild lebendiger gestalten. Das ist der große Vorteil des Digitalen. Diese Anreize sind wichtig und stimulierend für Menschen mit Demenz.
Die Anwendung ARTEMIS Digital gliedert sich in vier verschiedene Module mit unterschiedlichen Inhalten. Wie haben Sie sich diesen Inhalten aus der Perspektive der Kunstvermittlung genähert?
Chantal Eschenfelder: Die Herangehensweise basierte vor allem auf unseren Erfahrungen mit ARTEMIS-Gruppen im Städel. Dort spielt die Begleitperson zwar auch eine Rolle, aber sie ist eher zurückgenommen. In der digitalen Anwendung steht die gemeinsame Aktivität im Mittelpunkt, auch was das Bedienen der Elemente angeht. Daher haben wir von Anfang an zwei Ebenen eingebaut, die sich gegenseitig ergänzen: eine Vertiefungsebene für die Begleitperson mit weiterführenden Informationen zu den Kunstwerken und Fragen, die sich aus der Betrachtung ergeben, sowie spielerische, interaktive Anwendungen, bei denen die Demenzpatienten beispielsweise Farben bestimmten Bereichen eines Gemäldes zuordnen müssen. Diese Interaktionen fördern den Austausch zwischen Begleitperson und Patient.
Johannes Pantel: Die gewählten Themen knüpfen an biografische Erlebnisse und Erinnerungen an. Dazu gehören Themen wie Familie, Kinder, Stillleben oder menschliche Gesichter. Die Herausforderung besteht darin, diese Themen in ein interaktives Programm zu überführen, ohne physische Kunstvermittler vor Ort. Die Anwendung wird sowohl für Menschen geeignet sein, die nicht mobil sind und von zu Hause aus teilnehmen können, als auch für diejenigen, die sie direkt im Museum, jedoch unabhängig von einer konkreten Führung nutzen möchten. Das macht das Projekt einzigartig.
Wie wird durch die Anwendung die Beziehung zwischen Menschen mit Demenz und den Begleitpersonen gestärkt?
Johannes Pantel: Pflegende Angehörige sind insbesondere für Menschen mit Demenz die wichtigsten und engsten Bezugspersonen. Etwa drei Viertel der Menschen mit Demenz werden zu Hause von ihren Angehörigen betreut, weshalb hier auch vom größten Pflegedienst der Nation gesprochen wird. Gleichzeitig kann die Pflegebeziehung für die Angehörigen und manchmal auch für die Pflegebedürftigen selbst sehr stressig und belastend sein. Diese Beziehung kann jedoch gestärkt werden, indem gemeinsam positive Erfahrungen in einer entspannten und stressfreien Umgebung gemacht werden – ohne Druck, Ziele zu erreichen oder Leistungen zu erbringen. Es geht darum, ästhetische Erfahrungen zu teilen, kreativ zu sein und kleine Erfolgserlebnisse zu teilen. Den positiven Effekt auf Lebensqualität und emotionales Wohlbefinden haben wir bereits in unserer ersten Studie wissenschaftlich belegt. Nun möchten wir zeigen, dass dies auch in einem digitalen Format funktionieren kann.
Chantal Eschenfelder: Das ist auch der Grund dafür, dass wir in der digitalen Anwendung immer wieder Module mit praktischen Anleitungen eingebaut haben. Diese Übungen haben sich im analogen Vorgängerprojekt als äußerst hilfreich erwiesen. Wir wollen die kreative und positive Erfahrungswelt, insbesondere in der praktischen Arbeit, auch in diesem neuen digitalen Setting fördern und begleiten.
Herr Pantel, Sie haben bereits erwähnt, dass das Vorgängerprojekt wissenschaftlich begleitet wurde. Was möchten Sie jetzt konkret mit der neuen Studie zu ARTEMIS Digital herausfinden, und welche Methoden kommen dabei zum Einsatz?
Johannes Pantel: Wir möchten an die Ergebnisse unserer ersten Studie anknüpfen, in der wir gezeigt haben, dass ein begleiteter Museumsbesuch die Lebensqualität von Menschen mit Demenz signifikant verbessert und auch positive Effekte bei den Angehörigen hat. Unsere Hauptannahme für die neue wissenschaftliche Fragestellung ist, dass wir diese Ergebnisse in ähnlicher Form auch im digitalen Setting reproduzieren können. Konkret werden wir 50 Menschen mit Demenz mit jeweils einem Angehörigen bzw. einer betreuenden Person in unsere Studie einschließen. Wir möchten nicht nur Menschen erreichen, die zu Hause betreut werden, sondern auch diejenigen, die bereits in einer Pflegeeinrichtung leben. Diese beiden Versorgungsbereiche interessieren uns besonders. Wir werden diese Paare regelmäßig in einem sogenannten Prä-Post Follow-up-Design befragen. Das bedeutet, dass sie zu Beginn der Studie mit bestimmten psychologischen Instrumenten befragt werden, und dann können wir systematisch vor und nach der Teilnahme am ARTEMIS Digital-Programm Unterschiede feststellen. Dabei stehen das Erleben und die subjektiven Erfahrungen der Teilnehmenden im Mittelpunkt. Zusätzlich werden wir einen systematischen Vergleich zwischen den beiden verschiedenen Betreuungssettings, nämlich zwischen den Personen, die in der Pflegeeinrichtung leben, und den Personen, die zu Hause betreut werden, durchführen. Gibt es hier Unterschiede? Diese Informationen werden uns dabei helfen, das Programm an die Bedürfnisse der beiden Settings optimal anzupassen.
Welche Meilensteine stehen bei der Entwicklung von Artemis Digital noch an?
Chantal Eschenfelder: Ein Modul haben wir bereits fertiggestellt und können nun in Testgruppen damit arbeiten und wichtiges Feedback einholen. Dies ist ein entscheidender Schritt, da wir sicherstellen müssen, dass das, was wir gestaltet und konzipiert haben, tatsächlich von der Zielgruppe genutzt werden kann. Wir werden weiterhin Feedback von den zukünftigen Nutzern sammeln, um die anderen drei Module zu entwickeln, die noch ausstehen. Insgesamt wird es also zwei große Testphasen geben, bevor die Anwendung fertiggestellt wird. Erst dann kann die offizielle Studie beginnen, die mit dem aus unserer Sicht optimalen Produkt starten wird.
Die Gesundheitsversorgung ist in Deutschland ein drängendes Thema. Als Gesellschaft werden wir zunehmend mit der Herausforderung konfrontiert, eine wachsende Anzahl von Menschen zu unterstützen, während gleichzeitig begrenzte Ressourcen und Fachkräftemangel bestehen. In Ländern wie England und Kanada sind kulturelle Angebote bereits fester Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Mit ARTEMIS Digital wollen wir die Debatte in Deutschland bereichern und mit einem attraktiven digitalen Kunstangebot zeigen, wie wir als Museum einen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten können. Diese Mission umzusetzen, ist nur mit den richtigen Partnern möglich. Daher sind wir sehr dankbar für die Kooperation mit Professor Pantel und seinem Team, da sie die notwendigen Kontakte und Expertise mitbringen. Gemeinsam gehen wir einen vielversprechenden Weg in die Zukunft.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.