Kunst trägt nachweislich zur Verbesserung der Lebensqualität bei. Allerdings kann der Besuch von Museen für Menschen, die an Demenz erkrankt sind, zur Herausforderung werden. Hier setzt ARTEMIS Digital an. Das erste Testing ist vielversprechend.
Die Anzahl der Menschen, die an Demenz erkranken, steigt aufgrund des demographischen Wandels stetig an. Die Krankheit hat nicht nur Auswirkungen auf das tägliche Leben der Betroffenen, sondern auch auf ihre sozialen Beziehungen und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Projekt ARTEMIS nutzt die Beschäftigung mit Kunst, um das emotionale Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern und ihnen ein Stück gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration zu ermöglichen.
Im Jahr 2014 startete das Städel Museum das Projekt ARTEMIS (ART Encounters: a Museum Intervention Study) gemeinsam mit dem Arbeitsbereich Altersmedizin am Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität. Ziel war die Entwicklung eines geeignetes Führungsformats mit anschließender Atelierarbeit für Menschen mit leichter bis mittelgradiger Demenz.
Menschen mit Demenz stehen im Alltag vor vielen Herausforderungen: Sie sind meist mobil eingeschränkt, leiden an Begleiterkrankungen oder finden sich im öffentlichen Verkehrsnetz nur schwer zurecht. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie schnell besonders ältere Menschen isoliert werden und dadurch am gesellschaftlichen Leben nicht mehr teilhaben können. Aus diesem Grund hat das das Städel Museum gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Altersmedizin der Goethe Universität beschlossen, mit einer digitalen Erweiterung von ARTEMIS den Zugang zur Kunst über die Museumsräume hinaus zu ermöglichen.
Wie auch das ursprüngliche Projekt zielt die digitale Anwendung darauf ab, die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu steigern und gleichzeitig die Beziehung zwischen den Menschen mit Demenz und ihren begleitenden Angehörigen zu stärken. Beide Personen werden in der Anwendung gleichermaßen angesprochen, auch wenn die Moderation sowie die Bedienung der Anwendung in erster Linie durch die Begleitperson erfolgt.
Wie lässt sich das erfolgreiche Projekt ARTEMIS nun ins Digitale überführen? Mit dieser Frage haben sich die Teams von Städel Museum, Goethe Universität und der Agentur Zum Kuckuck eingehend beschäftigt. Es war klar, dass das Erlebnis nicht eins zu eins übertragen werden kann. Dafür bietet die digitale Anwendung viele neue Möglichkeiten der Vermittlung: Kunstwerke können im Detail betrachtet werden, kurze Filme geben einen atmosphärischen Einblick in das Städel Museum und Audiospuren führen durch die Anwendung. Die digitale Anwendung ist zudem zeit- und ortsunabhängig.
Zum Einstieg von ARTEMIS Digital wählen die Teilnehmer zwischen verschiedenen Themen mit unterschiedlichen Kunstwerken aus, deren Inhalte bei den meisten Usern persönliche Anknüpfungspunkte ermöglichen. Für den ersten Prototypen wurde das Modul „Familie und Gemeinschaft“ entwickelt, das sich aus acht Kunstwerken zusammensetzt und die Bandbreite familiärer und emotionaler Beziehungen verdeutlicht. Atmosphärische Filme in einem entschleunigten Tempo stellen behutsam die Werke vor und leiten die Modulthemen ein.
Mit Elementen der Gamification sowie interaktiven Modulen werden die Teilnehmer anschließend angeregt, sich auf die Werke zu konzentrieren und mit ihren Begleitpersonen in den Austausch zu treten.
Es gibt auch Aufgaben zur Aktivierung der Sinne. Beispielsweise können Nutzer verschiedene Tonspuren von Vogelgezwitscher oder Stimmengewirr zu Max Liebermanns Werk „Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus“ (1881–1882) abspielen. Mit diesem spielerischen Zugang zu dem Werk wird an die Sinneswahrnehmung der Nutzer appelliert und ihre Wahrnehmungsrezeptoren stimuliert. Das Ziel ist es, die Kommunikation zwischen den Nutzern zu fördern und positive Emotionen hervorzurufen, indem man an die frühen Lebensjahre von Menschen mit Demenz erinnert.
Die Anwendung bietet auch eine Wissensebene, auf der Begleitpersonen Zusatzinformationen zum Werk aufrufen können, um das Gespräch anzuregen. Zu einem späteren Zeitpunkt wird auch ein digitaler Workshop Bereich in die Anwendung integriert. Im kreativen Gestalten können hier kognitive und sensorischen Fähigkeiten stimuliert werden.
Welchen Anforderungen sollte die Anwendung gerecht werden? Wie aktivierend sind die einzelnen Module im Gebrauch und an welchen Stellen gibt es Hindernisse oder gar Überforderung?
Ziel des Testings war es, die Bedürfnisse dieser Zielgruppe kennenzulernen und erste Rückmeldungen zu sammeln, um sicherzustellen, dass die Bedienbarkeit der Anwendung auf die Bedürfnisse von Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Hierfür entwickelte das Projektteam des Städel Museums zusammen mit der Goethe-Universität einen Fragebogen, indem beispielsweise abgefragt wurde, ob sich die Teilnehmer mehr Entscheidungsfreiheit bei der Auswahl der Werke wünschen, über welche Geräte sie verfügen und ob der Anmeldeprozess für sie leicht zu bewältigen war. Beobachtet und protokolliert wurde, wie sie sich durch die Anwendung klickten, wo Hindernisse und Unsicherheiten auftraten und Symbole und Icons nicht intuitiv erfasst werden konnten.
Insgesamt nahmen zehn Personen am Testing teil. Das Projektteam stellte sich zunächst die Frage, ob die Zielgruppe tatsächlich eine digitale Anwendung dieser Art nutzen würde oder ob die meist älteren Menschen mit Demenz möglicherweise zu große Berührungsängste gegenüber digitalen Medien haben. Diese These konnte schnell entkräftet werden.
Die begleitenden Angehörigen klickten durch die Anwendung, während sich die Menschen mit Demenz durch die animierenden Module aktiv am Geschehen beteiligten. Einige Teilnehmer berichteten, dass ihnen die Beschäftigung mit Kunst Spaß mache. Die Filme wurden als besonders stimmungsvoll wahrgenommen. Eine Begleitperson ließ verlauten: „Ich habe jetzt richtig Lust, ins Museum zu gehen!“. Andere wünschten sich einen stärkeren Zoom auf die Werke. Das Design der Anwendung wurde als gelungen empfunden, insbesondere die großformatigen Bildelemente und die gut lesbare Schriftgröße.
„Der erste Look and Feel der digitalen Anwendung kam insgesamt positiv bei der Zielgruppe an! Das Testing mit der Fokusgruppe ist ein wichtiger Bestandteil bei der Entwicklung digitaler Angebote. Jetzt, wo wir die Testteilnehmer beim Klicken beobachten konnten, erkennen wir die vielen Potenziale“, erläutert Anne Dribbisch, die das Testing begleitete.
In einem weiteren Entwicklungsstadium wird es einen erneuten Durchlauf mit der Zielgruppe geben, um sicherzustellen, dass die entwickelten Lösungen den Bedürfnissen und Erwartungen der Nutzer entsprechen. Dies ist nicht nur von Bedeutung, um den Nutzern ein emotionsbasiertes Kunsterlebnis im häuslichen Umfeld zu verschaffen, sondern auch, um die übergeordneten Ziele von ARTEMIS Digital zu erreichen: Gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration.
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