2019 erhielt das Städel Museum als großzügige Schenkung aus Privatbesitz ein umfangreiches Konvolut des Nachlasses von Ottilie W. Roederstein. Seitdem wird der Archivschatz nach und nach gehoben. Wir stellen ihn vor.
Als Ottilie W. Roederstein im November 1937 im Alter von 79 Jahren starb widmete ihr der Frankfurter Kunstverein kurz darauf eine Gedächtnisausstellung. Dies sollte für Jahrzehnte die letzte Einzelausstellung der Künstlerin in Frankfurt sein. Seither ist die zu Lebzeiten überaus erfolgreiche Künstlerin und Porträtistin nahezu unbekannt. Für zahlreiche ihrer Kunstwerke verlor sich die Spur.
Dass das Städel Museum anhand persönlicher Quellen der Künstlerin und zeitgenössischen Dokumenten aus dem Nachlass das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau so umfassend und facettenreich nachzeichnen konnte, ist im Wesentlichen zwei Menschen zu verdanken: Roedersteins Freundin Elisabeth Winterhalter (1856–1952) und ihrem Hofheimer Nachbar Hermann Jughenn (1888–1967), der mit den beiden Frauen seit den 1920er-Jahren bekannt war.
Winterhalter und Jughenn hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Roedersteins Vita für die Nachwelt zu bewahren. Bereits unmittelbar nach ihrem Tod richteten beide das Atelier der Künstlerin in Hofheim mit Werken aus ihrem Nachlass ein. Dieser Gedächtnisort stand bis 1944 für Besucher offen.
Jughenn war übrigens weder Künstler noch Kunsthistoriker. Er war Angestellter bei der Reichsbahn. Zunächst schrieb er seine Erinnerungen an Roederstein in seiner Freizeit nieder. Auf Initiative Winterhalters und in enger Zusammenarbeit mit ihr nahm er schließlich offiziell die Arbeit an einer Biografie und an einem Werkverzeichnis auf. Sie übergab ihm im Laufe dieses Projekts Fotografien und Dokumente aus dem Leben der Künstlerin. Über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ergänzte er diesen Nachlass durch seine eigene Korrespondenz, Fotografien der Werke, schriftliche Aufzeichnungen und eine zeitgenössische Materialsammlung. Mithilfe Winterhalters, aber auch mit Unterstützung durch weitere, der Künstlerin nahestehende Personen, begann Jughenn mit hohem Einsatz und in unermüdlicher Detailarbeit die Lebensstationen Roedersteins zu recherchieren und zu erfassen.
Weder eine Biografie der Künstlerin noch einen Œuvrekatalog konnte er jedoch in der vorgesehenen Form veröffentlichten. Nach Jughenns Tod im Jahr 1967 ging das Archiv in den Besitz seiner Familie über und war in seinem Hofheimer Haus untergebracht.
Das überlieferte Text- und Bildgut gewährt einen Einblick in die erfolgreiche Karriere und die privaten Lebensumstände der Künstlerin. Über einen Zeitraum von mehr als sechzig Jahren und ungeachtet aller persönlichen Herausforderungen und historischen Brüche hinterließ sie nicht nur ein umfangreiches Œuvre, sondern erzielte damit auch ein gutes Einkommen. Das Archiv enthält zudem eindrucksvolle Zeugnisse der Lebensgemeinschaft zweier über Jahrzehnte miteinander verbundener, gesellschaftlich hoch angesehener Frauen. Darüber hinaus bildet es die vielfältigen Verbindungen der in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland aktiven Künstlerin ab, die durch ein klug gesponnenes soziales Netzwerk ihren kommerziellen Erfolg hatte maximieren können. Und es lässt sich daran sehr deutlich festmachen, wie Roederstein – in einer Zeit, in der Frauen auf die Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt waren – auch deswegen ein freies und selbstbestimmtes Leben als Künstlerin führen konnte, weil sie sich mit anderen Frauen zusammenschloss.
Ungefähr 1.600 Fotografien haben sich aus dem Nachlass Roederstein und Winterhalters erhalten. Die historischen Foto-Porträts der Künstlerin aus allen Lebensphasen zählen zu dem wertvollsten Bestand des Archivs. Er enthält teils inszenierte Porträtaufnahmen der Künstlerin aus unterschiedlichsten Quellen, teils spontane Amateuraufnahmen. Alles ist erstaunlich umfangreich dokumentiert – und sicher auch dem glücklichen Umstand geschuldet, dass sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Amateurfotografie enorm verbreitet hatte und Roederstein, die dieses Medium auch für ihre Malerei nutzte, zudem mit einer Fotografin befreundet war: der Französin Jeanne Smith (1857-1943). Die zahlreichen Aufnahmen von Roederstein – teils aus Quellen, deren Identität jedoch oft nicht mehr nachvollziehbar ist – lassen sich wie eine Perlenkette ihrer Biografie aneinanderreihen. Sie geben faszinierende Einblicke in das Leben einer Künstlerin, die sich zwar nie einer der klassischen Avantgardebewegungen anschloss, aber dennoch einen modernen Lebensentwurf wagte.
Besonders schön sind zum Beispiel die Fotografien aus den frühen Studienjahren in Berlin und Paris: Sie zeigen Roederstein – als Frau in Männerrobe – verkleidet als Friedrich Schiller anlässlich eines Kostümfests in Karl Gussows Damenklasse. Ebenso sehenswert: Roederstein in Ritterrüstung als französische Nationalheldin Jeanne d’Arc, eine Symbolfigur der Frauenbewegung. Oder die vielen Aufnahmen von unschätzbaren Wert, die Roederstein bei der täglichen Arbeit in den verschiedenen Ateliers zeigen, die sie im Laufe ihrer Karriere unterhielt – darunter auch ihr Arbeitsraum im Ateliergebäude des Städelschen Kunstinstituts. Dann gibt es „Kodak Souvenirs“ in Form von ganzen Fotoalben: auf ihnen sieht man die beiden weltoffenen und abenteuerlustigen Freundinnen, die sich „Tante Tilly“ (Roederstein) und „Onkel Hans“ (Winterhalter) nannten, auf ihren verschiedenen Reisen – teils auch in Begleitung weiterer Freundinnen. Man entdeckt sie beim Bergsteigen im Oberengadin oder bei einem Ritt auf einem Kamel in Algerien. Besonders eindrucksvoll sind auch die letzten Aufnahmen der Künstlerin. Sie zeigen eine entschlossen wirkende, starke Frau am Ende ihres langen und produktiven Lebens, Seite an Seite mit ihren gemalten Porträts.
Auch die Briefwechsel zeichnen ein vielseitiges Bild der Künstlerin. Erhalten haben sich nach derzeitigem Erschließungsstand ca. 300 von Hermann Jughenn erfasste Briefe Roedersteins (wenn auch nicht als Handschriften, sondern mehrheitlich als Transkripte überliefert), fast 500 überlieferte Briefe einschließlich Postkarten an Roederstein und zudem circa 200 Briefe an Elisabeth Winterhalter. Diese Korrespondenz bildet Roedersteins Netzwerk wie ein Puzzle ab und zeigt einmal mehr, wie mobil und offen sie bis ins hohe Alter war. Man findet darin Korrespondenz zwischen Roederstein und Elisabeth Winterhalter, ihrer Familie, engen Vertrauten wie Anna und Tilly Edinger oder Pauline Häberlin, Künstlern und Künstlerinnen wie u. a. Cuno Amiet, Carolus Duran und Jean-Jacques Henner (Roedersteins Lehrer in Paris), Dora Hitz, Alexej von Jawlensky, Ludwig Meidner, Sigismund Rhigini, Martha Stettler und Annie Stebler-Hopf, der Fotografin Jeanne Smith und Schriftstellern wie Hermann Hesse, Wilhelm Schäfer und Julia Virginia Laengsdorff.
Einen äußerst facettenreichen Bestand stellen auch die zahlreichen, an die 700 Ausstellungsbesprechungen und Presseartikel zu Roederstein dar: Über 180 Gruppen- und Einzelausstellungen in der Schweiz, Deutschland und Frankreich konnten die Kuratoren der Ausstellung zwischen 1883 und 1938 anhand der Überlieferungen des Archivs rekonstruieren. Das Material zeigt, wie die zu Lebzeiten überaus erfolgreiche Künstlerin damals von der Kunstwelt wahrgenommen wurde. Die im Archiv enthaltenen Kataloge, Ausstellungsbesprechungen und Berichte zu Roederstein bezeugen ihre bedeutende Rolle insbesondere auch für das Frankfurter Kunstleben.
Insgesamt 1.800 Werke – Gemälde und Arbeiten auf Papier – konnte Hermann Jughenn mit der Hilfe Elisabeth Winterhalters sowie anhand der von zu dieser Zeit noch lebenden Porträtierten, Erstbesitzern oder deren Angehörigen gemachten Angaben für die Nachwelt erfassen. Es gelang Hermann Jughenn damals, Werke Roedersteins „in Amerika, Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Österreich, Palästina, Polen, Russland und in der Schweiz“ nachzuweisen. Bisher ließ sich dank des Werkverzeichnisses Hermann Jughenns (und dem darauf basierenden, 1999 veröffentlichten Œuvrekatalog Barbara Röks) der Verbleib von rund einem Drittel der Werke rekonstruieren. Es ist zu hoffen, dass im Laufe der Bearbeitung des Archivbestands weitere Roederstein-Werke in öffentlichem oder privatem Besitz identifiziert werden können.
Denn mit der Ausstellung ist die Aufarbeitung des reichen Bestands noch nicht abgeschlossen: Die Forschungsarbeit geht weiter! In den nächsten zwei Jahren wird das Archiv am Städel Museum geordnet und aufbereitet, um es nach erfolgter Erschließung der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Geplant sind eine Publikation zu Roederstein und eine digitale Präsentation der Highlights aus dem Archiv.
Diese Erschließung wird großzügig unterstützt durch die Rudolf August Oetker Stiftung, die Damengesellschaft des Städelschen Museums-Vereins sowie durch eine private Spende, um das Erbe Roedersteins hier in Frankfurt bewahren, erforschen und vermitteln zu können.
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