Navigation menu

Aus dem Leben einer Künstlerin

2019 erhielt das Städel Museum als großzügige Schenkung aus Privatbesitz ein umfangreiches Konvolut des Nachlasses von Ottilie W. Roederstein. Seitdem wird der Archivschatz nach und nach gehoben. Wir stellen ihn vor.

Iris Schmeisser — 22. Juli 2022

Als Ottilie W. Roederstein im November 1937 im Alter von 79 Jahren starb widmete ihr der Frankfurter Kunstverein kurz darauf eine Gedächtnisausstellung. Dies sollte für Jahrzehnte die letzte Einzelausstellung der Künstlerin in Frankfurt sein. Seither ist die zu Lebzeiten überaus erfolgreiche Künstlerin und Porträtistin nahezu unbekannt. Für zahlreiche ihrer Kunstwerke verlor sich die Spur.

Unbekannter Fotograf, Ottilie W. Roederstein und Hermann Jughenn, Hofheim am Taunus, um 1933

Unbekannter Fotograf, Ottilie W. Roederstein und Hermann Jughenn, Hofheim am Taunus, um 1933

Dass das Städel Museum anhand persönlicher Quellen der Künstlerin und zeitgenössischen Dokumenten aus dem Nachlass das Leben und Werk dieser außergewöhnlichen Frau so umfassend und facettenreich nachzeichnen konnte, ist im Wesentlichen zwei Menschen zu verdanken: Roedersteins Freundin Elisabeth Winterhalter (1856–1952) und ihrem Hofheimer Nachbar Hermann Jughenn (1888–1967), der mit den beiden Frauen seit den 1920er-Jahren bekannt war.

Leben und Werk für die Nachwelt bewahren

Winterhalter und Jughenn hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Roedersteins Vita für die Nachwelt zu bewahren. Bereits unmittelbar nach ihrem Tod richteten beide das Atelier der Künstlerin in Hofheim mit Werken aus ihrem Nachlass ein. Dieser Gedächtnisort stand bis 1944 für Besucher offen.

Unbekannter Fotograf, Elisabeth H. Winterhalter und Ottilie W. Roederstein, um 1930

Unbekannter Fotograf, Elisabeth H. Winterhalter und Ottilie W. Roederstein, um 1930

Jughenn war übrigens weder Künstler noch Kunsthistoriker. Er war Angestellter bei der Reichsbahn. Zunächst schrieb er seine Erinnerungen an Roederstein in seiner Freizeit nieder. Auf Initiative Winterhalters und in enger Zusammenarbeit mit ihr nahm er schließlich offiziell die Arbeit an einer Biografie und an einem Werkverzeichnis auf. Sie übergab ihm im Laufe dieses Projekts Fotografien und Dokumente aus dem Leben der Künstlerin. Über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ergänzte er diesen Nachlass durch seine eigene Korrespondenz, Fotografien der Werke, schriftliche Aufzeichnungen und eine zeitgenössische Materialsammlung. Mithilfe Winterhalters, aber auch mit Unterstützung durch weitere, der Künstlerin nahestehende Personen, begann Jughenn mit hohem Einsatz und in unermüdlicher Detailarbeit die Lebensstationen Roedersteins zu recherchieren und zu erfassen.

Weder eine Biografie der Künstlerin noch einen Œuvrekatalog konnte er jedoch in der vorgesehenen Form veröffentlichten. Nach Jughenns Tod im Jahr 1967 ging das Archiv in den Besitz seiner Familie über und war in seinem Hofheimer Haus untergebracht.

Ein Archivschatz wird gehoben

Das überlieferte Text- und Bildgut gewährt einen Einblick in die erfolgreiche Karriere und die privaten Lebensumstände der Künstlerin. Über einen Zeitraum von mehr als sechzig Jahren und ungeachtet aller persönlichen Herausforderungen und historischen Brüche hinterließ sie nicht nur ein umfangreiches Œuvre, sondern erzielte damit auch ein gutes Einkommen. Das Archiv enthält zudem eindrucksvolle Zeugnisse der Lebensgemeinschaft zweier über Jahrzehnte miteinander verbundener, gesellschaftlich hoch angesehener Frauen. Darüber hinaus bildet es die vielfältigen Verbindungen der in der Schweiz, in Frankreich und in Deutschland aktiven Künstlerin ab, die durch ein klug gesponnenes soziales Netzwerk ihren kommerziellen Erfolg hatte maximieren können. Und es lässt sich daran sehr deutlich festmachen, wie Roederstein – in einer Zeit, in der Frauen auf die Rolle als Ehefrau und Mutter festgelegt waren – auch deswegen ein freies und selbstbestimmtes Leben als Künstlerin führen konnte, weil sie sich mit  anderen Frauen zusammenschloss.

Ein Leben in Schwarz-Weiß

Ungefähr 1.600 Fotografien haben sich aus dem Nachlass Roederstein und Winterhalters erhalten. Die historischen Foto-Porträts der Künstlerin aus allen Lebensphasen zählen zu dem wertvollsten Bestand des Archivs. Er enthält teils inszenierte Porträtaufnahmen der Künstlerin aus unterschiedlichsten Quellen, teils spontane Amateuraufnahmen. Alles ist erstaunlich umfangreich dokumentiert – und sicher auch dem glücklichen Umstand geschuldet, dass sich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Amateurfotografie enorm verbreitet hatte und Roederstein, die dieses Medium auch für ihre Malerei nutzte, zudem mit einer Fotografin befreundet war: der Französin Jeanne Smith (1857-1943). Die zahlreichen Aufnahmen von Roederstein – teils aus Quellen, deren Identität jedoch oft nicht mehr nachvollziehbar ist – lassen sich wie eine Perlenkette ihrer Biografie aneinanderreihen. Sie geben faszinierende Einblicke in das Leben einer Künstlerin, die sich zwar nie einer der klassischen Avantgardebewegungen anschloss, aber dennoch einen modernen Lebensentwurf wagte.

Carl Segert, Künstlerinnenfest im Damenatelier Karl Gussows mit Roederstein als Schiller verkleidet (Mitte stehend), Berlin, Januar 1882

Carl Segert, Künstlerinnenfest im Damenatelier Karl Gussows mit Roederstein als Schiller verkleidet (Mitte stehend), Berlin, Januar 1882

Unbekannter Fotograf, Roederstein in ihrem Atelier im Städelschen Kunstinstitut, um 1894

Unbekannter Fotograf, Roederstein in ihrem Atelier im Städelschen Kunstinstitut, um 1894

Unbekannter Fotograf, Roedersteins Atelier in der Rue Bara 5, Paris, um 1883-1891

Unbekannter Fotograf, Roedersteins Atelier in der Rue Bara 5, Paris, um 1883-1891

Unbekannter Fotograf, aus dem Fotoalbum der Bergtour im Oberengadin, 1898

Unbekannter Fotograf, aus dem Fotoalbum der Bergtour im Oberengadin, 1898

Carl Segert, Roederstein als Schiller, Berlin, Januar 1882

Carl Segert, Roederstein als Schiller, Berlin, Januar 1882

Jeanne Smith, Roederstein als Jeanne d’Arc, 1887-1889

Jeanne Smith?, Roederstein als Jeanne d’Arc, 1887-1889

Jeanne Smith, aus dem Fotoalbum der Reise durch Tunesien und Algerien, November Dezember 1913

Jeanne Smith?, aus dem Fotoalbum der Reise durch Tunesien und Algerien, November Dezember 1913

Besonders schön sind zum Beispiel die Fotografien aus den frühen Studienjahren in Berlin und Paris: Sie zeigen Roederstein – als Frau in Männerrobe – verkleidet als Friedrich Schiller anlässlich eines Kostümfests in Karl Gussows Damenklasse. Ebenso sehenswert: Roederstein in Ritterrüstung als französische Nationalheldin Jeanne d’Arc, eine Symbolfigur der Frauenbewegung. Oder die vielen Aufnahmen von unschätzbaren Wert, die Roederstein bei der täglichen Arbeit in den verschiedenen Ateliers zeigen, die sie im Laufe ihrer Karriere unterhielt – darunter auch ihr Arbeitsraum im Ateliergebäude des Städelschen Kunstinstituts. Dann gibt es „Kodak Souvenirs“ in Form von ganzen Fotoalben: auf ihnen sieht man die beiden weltoffenen und abenteuerlustigen Freundinnen, die sich „Tante Tilly“ (Roederstein) und „Onkel Hans“ (Winterhalter) nannten, auf ihren verschiedenen Reisen – teils auch in Begleitung weiterer Freundinnen. Man entdeckt sie beim Bergsteigen im Oberengadin oder bei einem Ritt auf einem Kamel in Algerien. Besonders eindrucksvoll sind auch die letzten Aufnahmen der Künstlerin. Sie zeigen eine entschlossen wirkende, starke Frau am Ende ihres langen und produktiven Lebens, Seite an Seite mit ihren gemalten Porträts.

Unbekannter Fotograf, Roederstein zwischen zwei Selbstporträts, 1936

Unbekannter Fotograf, Roederstein zwischen zwei Selbstporträts, 1936

„Innigst Deine Tilly“

Auch die Briefwechsel zeichnen ein vielseitiges Bild der Künstlerin. Erhalten haben sich nach derzeitigem Erschließungsstand ca. 300 von Hermann Jughenn erfasste Briefe Roedersteins (wenn auch nicht als Handschriften, sondern mehrheitlich als Transkripte überliefert), fast 500 überlieferte Briefe einschließlich Postkarten an Roederstein und zudem circa 200 Briefe an Elisabeth Winterhalter. Diese Korrespondenz bildet Roedersteins Netzwerk wie ein Puzzle ab und zeigt einmal mehr, wie mobil und offen sie bis ins hohe Alter war. Man findet darin Korrespondenz zwischen Roederstein und Elisabeth Winterhalter, ihrer Familie, engen Vertrauten wie Anna und Tilly Edinger oder Pauline Häberlin, Künstlern und Künstlerinnen wie u. a. Cuno Amiet, Carolus Duran und Jean-Jacques Henner (Roedersteins Lehrer in Paris), Dora Hitz, Alexej von Jawlensky, Ludwig Meidner, Sigismund Rhigini, Martha Stettler und Annie Stebler-Hopf, der Fotografin Jeanne Smith und Schriftstellern wie Hermann Hesse, Wilhelm Schäfer und Julia Virginia Laengsdorff.

Die „Clippings“

Einen äußerst facettenreichen Bestand stellen auch die zahlreichen, an die 700 Ausstellungsbesprechungen und Presseartikel zu Roederstein dar: Über 180 Gruppen- und Einzelausstellungen in der Schweiz, Deutschland und Frankreich konnten die Kuratoren der Ausstellung zwischen 1883 und 1938 anhand der Überlieferungen des Archivs rekonstruieren. Das Material zeigt, wie die zu Lebzeiten überaus erfolgreiche Künstlerin damals von der Kunstwelt wahrgenommen wurde. Die im Archiv enthaltenen Kataloge, Ausstellungsbesprechungen und Berichte zu Roederstein bezeugen ihre bedeutende Rolle insbesondere auch für das Frankfurter Kunstleben.

Das Werkverzeichnis

Insgesamt 1.800 Werke – Gemälde und Arbeiten auf Papier – konnte Hermann Jughenn mit der Hilfe Elisabeth Winterhalters sowie anhand der von zu dieser Zeit noch lebenden Porträtierten, Erstbesitzern oder deren Angehörigen gemachten Angaben für die Nachwelt erfassen. Es gelang Hermann Jughenn damals, Werke Roedersteins „in Amerika, Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Österreich, Palästina, Polen, Russland und in der Schweiz“ nachzuweisen. Bisher ließ sich dank des Werkverzeichnisses Hermann Jughenns (und dem darauf basierenden, 1999 veröffentlichten Œuvrekatalog Barbara Röks) der Verbleib von rund einem Drittel der Werke rekonstruieren. Es ist zu hoffen, dass im Laufe der Bearbeitung des Archivbestands weitere Roederstein-Werke in öffentlichem oder privatem Besitz identifiziert werden können.

Denn mit der Ausstellung ist die Aufarbeitung des reichen Bestands noch nicht abgeschlossen: Die Forschungsarbeit geht weiter! In den nächsten zwei Jahren wird das Archiv am Städel Museum geordnet und aufbereitet, um es nach erfolgter Erschließung der interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Geplant sind eine Publikation zu Roederstein und eine digitale Präsentation der Highlights aus dem Archiv.

Diese Erschließung wird großzügig unterstützt durch die Rudolf August Oetker Stiftung, die Damengesellschaft des Städelschen Museums-Vereins sowie durch eine private Spende, um das Erbe Roedersteins hier in Frankfurt bewahren, erforschen und vermitteln zu können.


Iris Schmeisser ist Provenienzforscherin und leitet das Städel Archiv. Zusammen mit Eva-Maria Höllerer hat sie den Bestand für die Ausstellung „FREI. SCHAFFEND. Die Malerin Ottilie W. Roederstein“ untersucht.

Die Damengesellschaft ist das Frauennetzwerk des Städelvereins und macht sich regelmäßig für ausgewählte Projekte stark, zum Beispiel für die Digitalisierung des Roederstein-Jughenn-Archivs oder die Restaurierung von Arnold Böcklins Gemälde der Schauspielerin Fanny Janauschek.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit roter Mütze, 1894, Tempera auf Holz, 36 x 44 cm, Kunstmuseum Basel, Geschenk eines Kunstfreundes in Zürich 1936,  Foto: Kunstmuseum Basel – Martin P. Bühler
    Ottilie W. Roederstein

    „Sie gehört zu den modernsten der Frauen“

    Ottilie W. Roederstein war keine Avantgardistin und setzte doch neue Maßstäbe: Als Künstlerin ging sie eigene Wege und ließ bürgerliche Konventionen hinter sich.

  • Vollendet: Arnold Böcklins „Bildnis der Schauspielerin Fanny Janauschek“. Gefördert wurde die aufwendige Restaurierung durch die Damengesellschaft des Städelschen Museums-Verein e.V.,  die auch den historischen Architekturrahmen im Hintergrund erwarb.
    Nach aufwendiger Restaurierung

    Comeback der Fanny Janauschek

    Arnold Böcklin verewigte die junge Schauspielerin Fanny Janauschek in einem monumentalen Porträt. Doch Gemälde altern – hinzu kamen Schäden durch frühere Restaurierungen. Chefrestaurartor Stephan Knobloch hat der Bühnenheldin wieder zu Glanz verholfen.

  • Edward Steichen: Modefoto, 1937, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
    Modefotografie

    „Machen Sie aus der Vogue einen Louvre“

    Kunst oder Kommerz? Modefotografie bewegt sich zwischen den Welten von Werbung, Modemagazin und – seit wenigen Jahren – Museum. Die Grenzverschiebung begann in den 1930er-Jahren, mit Pionieren wie Edward Steichen oder Dora Maar.

  • Ruth Schmutzler untersucht den Neuzugang von Oskar Schlemmer genauer
    Papierrestaurierung

    Geduldsprobe mit Spatel und Skalpell

    Jeder Neuzugang der Graphischen Sammlung landet zuerst auf den Tischen der Restaurierung – wo einem Werk von Oskar Schlemmer auch mal mit dem Skalpell zu Leibe gerückt wird.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Honoré Daumier

    Zur Ernsthaftigkeit der Komik

    Wie Karikaturen funktionieren und warum Daumier für sie ins Gefängnis kam.

  • Der Film zur Ausstellung

    Honoré Daumier. Die Sammlung Hellwig

  • Die Ausstellungen im Städel

    Highlights 2024

    Unser Ausblick auf 2024: Freut euch auf faszinierende Werke von Honoré Daumier und Käthe Kollwitz, lernt die Städel / Frauen kennen, entschlüsselt die Bildwelten von Muntean/Rosenblum, erlebt die Faszination italienischer Barockzeichnungen und reist zurück in Rembrandts Amsterdam des 17. Jahrhunderts.

  • Städel Mixtape

    #34 Jan van Eyck – Lucca-Madonna, ca. 1437

    Ein ruhiger Moment mit Kerzenschein, ihr seid so vertieft, dass ihr alles um euch herum vergesst: Vor rund 600 Jahren ging es den Menschen ähnlich, wenn sie vor Jan van Eycks „Lucca-Madonna“ gebetet haben. In diesem STÄDEL MIXTAPE geht es um das Andachts-Bild eines raffinierten Geschichtenerzählers. 

  • Städel | Frauen

    Louise Schmidt: Bildhauerin!

    Teil 2 der Porträt-Reihe „Städel | Frauen“.

  • ARTEMIS Digital

    Digitales Kunsterlebnis trifft wegweisende Demenz-Forschung

    Wie sieht eine digitale Anwendung aus, die Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen zeit- und ortsungebunden einen anregenden Zugang zur Kunst ermöglicht? Ein Interview über das Forschungsprojekt ARTEMIS, über Lebensqualität trotz Krankheit und die Kraft der Kunst.

  • Gastkommentar

    Kunst & Schwarze Löcher mit Astrophysikerin Silke Britzen

    Was sieht eine Astrophysikerin in den Werken der Städel Sammlung? In diesem Gastkommentar eröffnet Silke Britzen (Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Radioastronomie in Bonn) ihre individuelle Sichtweise auf die Kunstwerke im Städel Museum.