Jeder Neuzugang der Graphischen Sammlung landet zuerst auf den Tischen der Restaurierung – wo einem Werk von Oskar Schlemmer auch mal mit dem Skalpell zu Leibe gerückt wird.
Großzügig vermachte die Frankfurter Fotografin und Mäzenin Ulrike Crespo dem Städel Museum über 90 Kunstwerke, Gemälde und Arbeiten auf Papier. Über 60 davon sind Zeichnungen und Druckgraphiken des 20. Jahrhunderts und somit Teil der Graphischen Sammlung geworden. Wie blicken Papierrestauratorinnen auf die Neuzugänge?
Die von der Kunstspedition gut und sicher verpackten Mappen, Kassetten und die eingerahmten Stücke wurden von der Sammlungsleiterin Regina Freyberger und uns, den Restauratorinnen Jutta Keddies und Ruth Schmutzler, erwartungsvoll in Empfang genommen. Eine Liste des Konvolutes mit Künstler- und Werkdaten, Maßen und kleinen angehängten Thumbnails (das sind winzige Fotos, auf denen kaum etwas zu erkennen ist), lag vor uns, doch hatten wir keine Vorstellung der tatsächlichen Größe und vor allem der Wirkkraft der einzelnen Arbeiten.
Befreit von Schutzkartonage und Luftpolsterfolie zeigte sich: das Konvolut ist vielfältig, unsere Begeisterung groß: Die kleinste Arbeit (Platte: 129 x 178 mm, 1902) ist die von einer Kupferplatte gedruckte Farbradierung von Paula Modersohn-Becker. Eine am Krückstock gehende, gebeugte alte Frau, in Schwarz gekleidet, verfolgt von einer Gans, mit langgestrecktem Hals und einem roten Schnabel. Das Rot ist nicht auf der Kupferplatte eingefärbt, sondern mit spitzem Pinsel und Wasserfarbe von der Künstlerin nach dem Druck koloriert. Bei der größten (und einer der jüngsten) Arbeit (702 x 994 mm,1964) handelt es sich um eine Zeichnung des amerikanischen Künstlers Cy Twombly, ausgeführt mit Bleistift und trockenen Farbstiften auf hellem, glatten Zeichenkarton.
Schon bald sollten die geschenkten Werke der Öffentlichkeit präsentiert werden. In der Ausstellung „Zeichen der Freundschaft“ treten die Neuzugänge, die sich auf das Beste in die Städelsche Sammlung einfügen, mit Werken aus dem Bestand in einen Dialog. Doch bevor die Werke ausgestellt werden konnten, mussten sie museal aufgearbeitet werden, denn die Schenkung soll auch nachfolgenden Generationen Freude bereiten – nirgends sind die Bedingungen dafür so gut wie im Museum.
Zuerst galt es, die Arbeiten auf ihren Erhaltungszustand zu untersuchen und der Sammlungsleiterin Regina Freyberger die wissenschaftliche Erfassung zu ermöglichen. Hierzu wurden die Rahmen geöffnet und das Glas entfernt, um Blätter aus den Passepartouts und den rückseitigen Pappen herauszulösen und spätere alte Verklebungen und Montierungsfälzchen zu entfernen. Bei diesem Schritt kamen einige Vermerke, Stempel, Signaturen und Datierungen auf den Blattrückseiten zum Vorschein, die wichtig für die kunsthistorische Einordnung sind.
Jedes Mal wieder erscheint es wie eine „Befreiung“, wenn eine Zeichnung oder ein Druck „freigestellt“ bis zu den Blattkanten, in dem vom Künstler gewähltem Format, betrachtet werden konnte.
Die Werke wurden anschließend unter dem Mikroskop, im Streif- oder UV-Licht genauer in den Fokus genommen, um die Zeichenmedien näher zu bestimmen. So versuchen wir auch die Vorgehensweise eines Künstlers während seines Arbeitsprozesses nachzuvollziehen. Sehr aufschlussreich waren unsere Untersuchungen bei der bildmäßig ausgeführten Zeichnung Sitzendengruppe (1942) von Oskar Schlemmer. Sie verriet uns einiges über seine Arbeitsweise und seine Technik.
Schon die Wahl des Bildträgers ist nicht zufällig, sondern ganz bewusst gewählt. Oskar Schlemmer verwendete für seine in Öl ausgeführte Zeichnung ein kräftiges Transparentpapier, auch Pergamentpapier genannt, welches die Ölfarbe wegen seiner dichten Oberfläche nicht sofort absorbiert. So bleiben aufgetragene Farbflächen, welche mit Bleistift vorskizziert sind, länger für Manipulationen offen.
Er bearbeitete die Oberfläche mit festen Pinselhaaren, tupfte an einigen Stellen Lösungs- oder Bindemittel auf die Flächen, um sie wolkig auslaufen zu lassen und vertrieb die Farbe mit einem breiten, feinen Haarpinsel streifig über die Ränder. Mit dem hölzernen Ende des Pinselstils schuf er plastische Texturen in dichter aufgetragenen Farbflächen und sogar die Finger dienten der Bearbeitung der transparenten Flächen: gut erkennbar an den Papillarleisten von Fingerabdrücken.
Nach der Ausrahmung des Werks stellte sich heraus, dass das Blatt ganzflächig auf einen 2 mm starke Holzpappe aufgezogen, also „kaschiert“ wurde. Nach ausführlicher Erwägung und Diskussion waren Regina Freyberger und wir uns einig, dass es ein deutlicher Gewinn für die Transparenz des Bildes bedeuten würde, die Kaschierung von der Rückseite abzunehmen. Einstichlöcher in den vier Ecken deuteten zudem darauf hin, das diese Verklebung nach dem Malprozess des Künstlers stattgefunden hat und gar nicht von ihm angedacht war. Das ölhaltige Papier bedingt, dass die Verklebung zwar auf ganzer Fläche haftet, aber keine Feuchtigkeit oder Lösemittel nötig sind, um sie zu entfernen. Stattdessen wurde mit Spatel und Skalpell, unter aller gebotenen Vorsicht, Schicht für Schicht die Verklebung mechanisch abgetragen.
Das Ergebnis rechtfertigt im nachhinein die Mühen und den zeitlich hohen Aufwand. Insgesamt dauerte es etwa 45 Arbeitsstunden, das Werk von seinem starren Rücken zu befreien! Das Bild leuchtet nun wieder und ist aktuell in der Ausstellung „Zeichen der Freundschaft“ direkt an der Eingangswand zu sehen. Auf ein Passepartout, das die Blattkanten abdeckt, wurde verzichtet. Dafür ist das Werk in einem neu entworfenen Rahmen präsentiert, der Bauhausrahmenprofilen nachempfunden ist.
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