Malerei entspringt der Vorstellungskraft, Fotografie zeigt die wirkliche Welt. Tatsächlich? Die Grenzen verschwimmen. Können wir der Fotografie trauen oder lassen wir uns zu leicht täuschen?
Fotografie ist heute das Instrument, um Inhalte möglichst schnell und einprägsam zu verbreiten. Medien wie Instagram und Co. zeigen, dass es kaum mehr Sprache und Schrift braucht, um Eindrücke, Stimmungen oder Meinungen zu vermitteln. Doch je größer die Verbreitung und Wirksamkeit von Bildern ist, umso größer ist auch die Möglichkeit der Manipulation: Was ist real und was fiktiv? Verlassen wir uns viel zu häufig auf den vermeintlichen Realitätsanspruch der Fotografie?
Die Fotografie 7127 von Jörg Sasse bildet eine geradezu malerische Landschaft ab. Über einem Farbenmeer spazieren drei Wanderer, ein perfekter grüner Nadelwald im Hintergrund. Doch je länger man die Landschaftsfotografie betrachtet, desto mehr steigt das Unbehagen: Ist der Wald nicht ein bisschen zu grün? Woher kommen die bunten Farben im Flussbett? Stimmen die Spiegelungen im Wasser? Nichts ist so, wie es scheint – oder vielleicht doch? Jörg Sasse führt uns im wahrsten Sinne des Wortes auf den Holzweg.
Der Gleichung „Fotografie zeigt Realität“ ist spätestens in der Gegenwartskunst nicht mehr zu trauen. Sasse kreiert in seinen Arbeiten nicht nur eine fiktive Welt, er modelliert sie aus vorgefundenen Bildern. Aus seinem Fotoarchiv – bestehend aus gesammelten, analogen Amateur- und später auch eigenen Aufnahmen – entnimmt er eine Vorlage, die er einer digitalen Bearbeitung unterzieht. Was der Betrachter als Endergebnis sieht, hat es in dieser Form nie gegeben.
Mit den Maßen 130 × 200 cm hat Sasses 7127 nicht nur Leinwandgröße, der Künstler wendet auch Mittel an, die eigentlich zum gestalterischen Prozess der Malerei gehören: Die Realität, festgehalten durch Skizzen, Fotografien oder Modelle, wird solange bearbeitet, bis daraus etwas Neues, letztlich Fiktives entsteht. Eine Darstellung, in diesem Fall eine Landschaft, die zum einen der Schöpfungskraft des Künstlers entsprungen ist und sich zum anderen aus dem vorgefundenen, und dennoch bewusst ausgewählten Material speist.
Wie viel der Künstler Sasse allerdings digital bearbeitet, verrät er nicht. Vorher/Nachher-Bilder gibt es kaum. Was Sasse uns aber wissen lässt: Häufig sind es nur feine Anpassungen, die zu einem neuen, geradezu malerischen Gesamtbild führen. Die grobe Körnung seiner großformatigen „Fotografien“ verstärkt diesen Effekt nur noch.
Die Arbeit 7127 spielt nun mit zwei Möglichkeiten: Erkennt der Betrachter den ursprünglichen Ort der Aufnahme, kann vage erahnt werden, wie viel tatsächlich manipuliert wurde. Wird die Bildvorlage aber nicht erkannt, besteht die Gefahr, der eigenen Erfahrungswelt von Fiktion und Realität und damit der Schöpfungskraft des Künstlers auf den Leim zu gehen. Können wir Jörg Sasses Andeutungen trauen?
Die Fotografie wurde vor knapp 200 Jahren erfunden. Anfangs war ihre vermeintliche Objektivität einer ihrer größten Errungenschaften: Die unmittelbare Wiedergabe von Umwelt und Menschen. Damit eignete sie sich als Studie und Dokumentation nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Malerei. Künstler machten sich die Möglichkeit des detailgetreuen Festhaltens zu Nutze und legten Archive an, um die Fotografien später als Vorlagen zu verwenden – ganz ähnlich, wie Jörg Sasse bis heute noch vorgeht.
Diese Anfangszeit im voranschreitenden 19. Jahrhundert prägt noch immer die Erwartungshaltungen gegenüber diesen beiden Medien in der Kunst: Die Fotografie als Instrument für die naturgetreue Darstellung von Wirklichkeit, die Malerei als schöpferische, kreative Kraft. Die Grenzen verschwimmen aber schon seit den Anfängen der Fotografie und schon bald werden Genres der Malerei in das neue Medium übertragen.
Trotzdem dauert es eine ganze Weile, bis die Fotografie als eigenständige Kunstform anerkannt wird. Erst Ende des 19. Jahrhunderts beginnt sich allmählich ihr künstlerischer Stellenwert zu entwickeln.
Angekommen in der Moderne des 20. Jahrhunderts und in Kunstströmungen wie der Neuen Sachlichkeit, dem Neuen Sehen oder dem Surrealismus werden fotografische Mittel immer weiter ausgelotet: Von einem dokumentarischen, objektiven Ansatz bis hin zu experimentellen Bild(er)findungen.
In den 1960er- und 70er-Jahren entfaltet sich die Fotografie als eigenständiges Medium in der Kunst immer weiter. Performancekünstlerinnen und -künstler wie Jürgen Klauke oder Ulrike Rosenbach posieren ohne Publikum vor der Kamera und inszenieren sich eigens für das geschossene Bild. Die Fotografie ist damit nicht mehr nur Dokumentation, sondern eigentlicher Kunstgegenstand.
Fotografien dienen der Malerei hingegen nicht mehr nur als bloße Vorlage, sie werden gleich direkt auf die Leinwand übertragen – mal mit Pinsel, mal durch die direkte Belichtung der Leinwand in der Dunkelkammer. Gerhard Richter oder Sigmar Polke experimentieren mit neuen, medienübergreifenden Techniken.
Und doch: Erst 1976 soll es einen Lehrstuhl für künstlerische Fotografie an der Kunstakademie Düsseldorf geben. Mit der Professur von Bernd Becher, der in enger Zusammenarbeit mit seiner Frau Hilla Becher unterrichtet, entsteht die sogenannte Becher-Klasse – einer ihrer bekanntesten Schüler war Jörg Sasse. Die Bechers und ihre Studenten spielen mit der dokumentarischen Funktion von Fotografie. Ihre Arbeiten wechseln zwischen einer fast schon kühlen, objektiven Sachlichkeit und einem konzeptuellen Rahmen, der sich in der Wahl von Ausschnitt und Perspektive und später auch in digitaler Bildbearbeitung formal widerspiegelt.
In den 1980er- und 1990er-Jahren löst sich die Bildsprache analog wie digital nun vollends von den scheinbar zweidimensionalen Medien anhaftenden Grenzen: Die Becher-Schüler Andreas Gursky, Jörg Sasse oder Thomas Ruff hinterfragen durch ihre digitalen Manipulationen den Wahrheitsanspruch der Fotografie und erschaffen neue Bildwelten.
Malerei und Fotografie bedingen sich gegenseitig, der Austausch ist wechselseitig und lässt keine einfachen Gleichungen zu. Das Sehen wird ständig auf die Probe gestellt und der Glaube an Realität und Fiktion hinterfragt. In der Gegenwartskunst wird eines letztlich immer deutlicher: Die strikte Trennung zwischen den beiden vermeintlich konkurrierenden Medien wird durchbrochen und bietet Raum, für neue, medienübergreifende Arbeiten.
Dieser Prozess zeigt sich auch in der Gesellschaft: Das rasante Voranschreiten der Digitalisierung, die damit einhergehende Allgegenwart von Bildern und der inzwischen anerkannte Stellenwert der Fotografie verlangen nach neuen Kompetenzen im Spannungsfeld von Bild und Text. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte – aber wird es auch in gleicher Gewichtung analysiert und eingeordnet?
Im Vertiefungsraum CLOSE UP in der Sammlung Gegenwartskunst kann die gegenseitige Beeinflussung von Malerei und Fotografie an einer konzentrierten Werkauswahl erforscht und nachvollzogen werden. Das Zusammenspiel von Kunstwerken und verschiedenen analogen und digitalen Medien ermöglicht eine individuelle Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. Am Beispiel von Jörg Sasse, Wolfgang Tillmans und Sigmar Polke werden die unterschiedlichen Facetten des Austausches wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar.
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