Seit November 2022 verantwortet Astrid Reuter die Kunstwerke der Graphischen Sammlung bis 1800 – welche Entdeckungen sie dabei macht und wie ihr neuer Arbeitsalltag aussieht, erfahren Sie im Interview.
Mit über 100.000 Blättern ist der gesamte Bestand der Graphischen Sammlung riesig – wie haben Sie sich hier zu Beginn einen Überblick verschafft?
Das geht Schritt für Schritt. Natürlich wäre es schön, die Sammlung schon jetzt im Detail zu kennen, aber so eine große und vielfältige Sammlung lernt man nur nach und nach kennen. Da kommen Anfragen von Gruppen oder Einzelbesuchern, die Kunstwerke im Studiensaal anzusehen beziehungsweise sich vorlegen zu lassen, sehr gelegen: Sie sind so vielseitig, dass sie immer wieder neue Entdeckungen bereithalten und eine schöne Gelegenheit bieten, selber auf Details des Bestands aufmerksam zu werden.
Was ist Ihrer Meinung nach besonders am Grafikbestand des Städel Museums?
Im Bereich der älteren Kunst – also in unserer Museumsordnung bis 1800 – haben wir eine europäische Sammlung im besten Sinne. Die wichtigen Schulen – Italien, Niederlande, Frankreich und Deutschland – sind breit und in einer sehr hohen Qualität vertreten. Beeindruckend ist der hohe Anteil an Zeichnungen, ein besonders spannendes Medium, das sehr nah am Schaffensprozess der Künstlerinnen und Künstler ist.
Gibt es ein Werk, auf das Sie sich besonders gefreut haben?
Es ist nicht einfach, hier eines hervorzuheben, dafür gibt es zu viele Werke, die mich begeistern. Darunter ist eine Zeichnung des sogenannten „Meister der Worcester-Kreuztragung“ aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die mich schon eine Weile fasziniert. Sie zeigt die beiden Gruppen, die üblicherweise unterhalb des gekreuzigten Christus zu sehen sind: die Trauernden rund um Maria auf der einen Seite und die feindseligen Soldaten und Schergen auf der anderen. Der Meister, den wir nur unter seinem Hilfsnamen kennen, hat sie fein differenziert. Bei den Frauen um die zu Boden gesunkene Maria ist die Linienführung weich und fließend, während die Peiniger-Gruppe unruhig ausgeführt wirkt – es ist faszinierend, wie die Zeichenweise den Charakter der Figuren spiegelt.
Wie sieht Ihr Alltag aus – wieviel Zeit verbringen Sie mit den Originalen aus „Ihrem“ Bestand?
Leider zu wenig als mir lieb wäre! Die Aufgaben in der Graphischen Sammlung sind sehr vielfältig und umfassen ganz unterschiedliche Bereiche: Es kommen zahlreiche Besucher, die sich Werke im Studiensaal vorlegen lassen, uns erreichen viele Forschungs- und Leihanfragen und wir sind im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen anderer Häuser. Kontinuierlich beschäftigt uns die Bewahrung und Erschließung der umfangreichen Sammlung, die in mancherlei Hinsicht auch einem Bildarchiv gleicht: Welche Standards brauchen wir, um den Bestand auch in Zukunft umfassend und uneingeschränkt zugänglich zu machen? Dabei sind wir im intensiven Austausch mit der Grafikrestaurierung, und auch die Digitale Sammlung spielt bei unseren Überlegungen eine große Rolle. Wichtig ist mir der persönliche Kontakt zu Freunden und Förderern der Graphischen Sammlung. Und dann gibt es natürlich noch unsere Ausstellungshalle, die immer neu bespielt werden will – also bin ich gedanklich auch immer schon am nächsten Ausstellungsprojekt.
Wie entstehen eigentlich Ausstellungsideen?
In der Regel basieren unsere Projekte auf den Beständen der Sammlung. Die lichtempfindlichen Werke werden nicht dauerhaft gezeigt und erreichen vor allem in unseren Sonderausstellungen Sichtbarkeit. Monographische Präsentationen bieten die Möglichkeit, das Werk einer einzelnen Künstlerin oder eines einzelnen Künstlers intensiver in den Blick zu nehmen. In thematischen Ausstellungen hingegen greifen wir stärker aktuelle Diskurse auf. Persönlich liegt mir die französische Kunst besonders am Herzen. Aber die Interessen gehen weit darüber hinaus und der Blick in die Sammlung inspiriert und öffnet einem immer wieder die Augen für künftige Projekte.
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