Verborgene Textfragmente und andere Überraschungen: In der Graphischen Sammlung des Städel Museums kommen immer wieder bislang verborgene Details ans Licht. Über 100 italienische Barockzeichnungen wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts untersucht. 90 davon sind ab sofort in der Ausstellung „Fantasie und Leidenschaft“ zu sehen. Erforscht wurden neben Zeichenmaterialien und Papieren auch historische Montagen und das, was sich zwischen den Schichten verbergen könnte.
Die genaue Betrachtung und Analyse von Zeichnungen öffnet zunehmend den Blick für die jahrhundertealte Tradition des „Recyclings“, also der Wiederverwendung von Materialien. In der Buchforschung wird dies bereits seit vielen Jahren untersucht. Im Englischen wird der Begriff „waste“ (Abfall) für Papierausschuss verwendet. Dieser findet sich häufig auf Buchrücken oder unter den Spiegeln von Einbänden und ist von hohem Interesse für die Buchforschung. Doch auch bei der Kunst auf Papier lassen sich Spuren von Wiederverwendung finden. Im 16. und 17. Jahrhundert wäre es undenkbar gewesen, Papier – gleich welcher Qualität – als „Abfall“ zu bezeichnen und es als solchen zu behandeln. Papier als sehr kostbarer und in manchen Zeiten seltener Rohstoff wurde von den Künstlern intensiv genutzt. Rückseiten wurden bezeichnet und Papiere zerschnitten, neu zusammengesetzt oder angestückelt. Untersuchungen mit der Multispektralkamera liefern hierfür Beispiele, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind.
Bei der „Madonna mit dem Kind“ (um 1700?) von Giovan Gioseffo dal Sole lassen sich auf der Bildseite Textfragmente erkennen. Es handelt sich jedoch nicht um eine Beschriftung auf der Rückseite oder auf dem für die Montierung verwendeten Material. Vielmehr zeigt sich nun, da die Malmittel durch Alterung durchscheinend geworden sind, die ursprüngliche Nutzung des Papiers. Der unter dem „bozetto“, einer Vorstudie in Öl auf Papier, liegende Text konnte mit Hilfe einer Aufnahme im nahen Infrarotbereich von 940 nm sichtbar gemacht und genauer bestimmt werden. Es handelt sich dabei um eine Seite aus einem Kommentar zu einem Kodex des römischen Rechts. Solche hochwertigen Papiere wurden von den Künstlern der Zeit als Arbeitsmaterial sehr geschätzt.
Blaues, minderwertiges Papier – vielfach zur Verpackung von Zucker oder dem hochwertigen weißen Zeichen- und Schreibpapier verwendet –, wurde aufgrund der geringeren Kosten gerne von Künstlern benutzt. Leider sind diese Papiere heute oft verbräunt und das ursprüngliche Blau lässt sich nur noch unter dem Mikroskop nachweisen.
Bei der Zeichnung „Fratzengesicht, nach der Fledermaus sehend“ von Guercino oder einem seiner Nachfolger ist durch die vielen im Streiflicht erkennbaren Einschlüsse und Knoten im Papier ersichtlich, dass es sich nicht um Künstlerpapier, sondern um weniger qualitätvolles Material handelt.
Das Werk „Kampf der Horatier und Curiatier“ (1655) von Giacomo Cortese ist ganzflächig kaschiert und die Rückseite war bis dato nicht zugänglich. Durch die Aufnahme unter UV-Strahlung wurde die Zeichnung eines Profils sichtbar. Ob diese verborgene Skizze vom Künstler selbst geschaffen wurde oder ob es sich hier um wiederverwendetes Werkstattmaterial handelt, bleibt offen.
Eine Durchlichtaufnahme durch dünnen Karton, bei der gleichzeitig die Zeichenmittel auf der Vorderseite digital reduziert wurden, kann bereits Hinweise auf das verwendete Material oder Rückseiteninformationen geben. Durch die stufenweise Optimierung der Kameraeinstellungen – wie Belichtungszeit, Kontrast und andere Faktoren – lassen sich mehr Information als bisher von der verborgenen Rückseite gewinnen. Nicht nur rückseitige Bezeichnungen und Stempel werden sichtbar, sondern auch die Verwendung von Zeichnungen und Druckgrafiken, Notenpapieren, Textseiten aus Büchern und handgeschriebene Listen als Material für Kaschierungen.
Castigliones „Hirten und Schäferinnen mit einer Herde an der Tränke“ (ca. 1635) wurde beispielsweise ganzflächig auf eine französische Einladungskarte zu einer Veranstaltung in der Kirche St. Roche aufgezogen. Es handelt sich um ein Schriftstück aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Dies gibt uns einen Hinweis auf das früheste Datum der Kaschierung, das wahrscheinlich dem der historischen Montierung mit blauen Papierstreifen sowie Rahmung mit Gold und schwarzer Feder entspricht.
Beispiele für den ökonomischen Umgang mit dem teuren Material Papier finden sich auch in der Präsentation und Aufbewahrung der Kunstwerke. Passepartouts und Untersatzbögen wurden oft aufwendig gestaltet und zum Teil aus Reststücken zusammengesetzt.
So wurden beim Werk „Maria mit der Heiligen Anna“, wie im vorherigen Beispiel „Ausschusspapiere“ zur Kaschierung verwendet. In diesem Fall wurde ein Schriftstück in der kompletten Größe des historischen Untersatzbogens als Zwischenlage verwendet.
Neuere bildgebende Verfahren schaffen so die Grundlage für einen tieferen Einblick in die Arbeitsweise von Künstlern und Sammlern. Es ist ein großes Privileg, an und mit diesen Zeichnungen zu arbeiten. Die Möglichkeit, das zu entdecken, was vorher verborgen war, schafft eine noch intimere Beziehung zu den Künstlern. Jedes dieser Werke ist etwas Besonderes – sei es die Zeichnung selbst, die Verwendung des Zeichenmaterials oder das Papier. Die Ergebnisse unserer Forschung in der Ausstellung „Fantasie und Leidenschaft. Zeichnen von Carracci bis Bernini“ präsentiert zu sehen und unsere Erkenntnisse teilen zu können, rundet das Projekt ab.
Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.