Etwa 70 Jahre bestimmte Tizian das Kunstgeschehen in Venedig. Über einen Künstler, der sich in seiner langen und erfolgreichen Schaffenszeit immer wieder neu erfunden hat.
Sein Name wird in einem Atemzug genannt mit den großen Drei: Michelangelo, Leonardo, Raffael – Tizian (um 1488/90-1576). Im 16. Jahrhundert war er der erfolgreichste Maler in Venedig. Dabei stand er in der Tradition seiner Vorgänger, vor allem der Brüder Gentile und Giovanni Bellini, entwickelte daraus eine ganz eigene Malweise, von der sich viele seiner Zeitgenossen, aber auch spätere Generationen inspirieren ließen. Aber was macht Tizians Malerei so besonders und bis heute faszinierend?
Seine Virtuosität bei der Wiedergabe von Oberflächen kommt schon in den frühen Schaffensjahren zur Geltung. Eines seiner ersten eigenständigen Werke ist das Bildnis eines jungen Mannes aus dem Städel Museum. Es ist auch das kleinste seiner Gemälde, mit gerade einmal 20 x 17 cm kleiner als eine DIN-A4-Seite. Mancher Besucher oder Besucherin wird sich wundern: Riesenhaft empfängt einen das Motiv im Treppenabgang zur Ausstellung, der Kontrast zum Original könnte nicht überraschender sein.
Durch den radikalen Bildausschnitt kommt uns der junge Mann jedoch ungewöhnlich nah und die Komposition wirkt trotz geringer Größe monumental. Bereits in diesem frühen Werk wird deutlich, dass Tizian ein Meister der Pinselstriche ist. Der Hautton ist fein ausdifferenziert, die Farbe sanft vertrieben: Die Rötung der Wangen und die verschatteten Partien verleihen dem Gesicht eine ungemeine Plastizität und Präsenz. Im Gegensatz dazu stehen die sichtbar belassenen Pinselstriche und der dicke Farbauftrag, mit denen das Weiß des plissierten Hemdes gemalt ist. Diese unterschiedlichen Oberflächenbehandlungen verleihen dem Gemälde seine Lebendigkeit.
Im Noli me tangere (ca. 1514) aus der National Gallery in London bringt Tizian eine raffinierte Technik zur Anwendung, die wir vor allem auch in späteren Werken wiederfinden: Er versieht den Pinsel mit zähflüssiger Farbe und zieht sie dann nur leicht über den unebenen Malgrund. An den erhabenen Stellen der Leinwand bleibt die Farbe haften, und zugleich entstehen kleine Unterbrechungen im Farbauftrag – das Phänomen des „gebrochenen“ Pinselstrichs. Man muss schon genau hinsehen, um es auszumachen. Das Ergebnis sind Stoffe in unterschiedlicher Transparenz: Über dem bauschigen leicht durchsichtigen Ärmel trägt Maria Magdalena ein hauchdünnes Tuch. Der subtile Einsatz von Pigmenten spielt dabei auch eine entscheidende Rolle – Weiß ist nicht gleich Weiß.
Tizian besitzt gleichzeitig eine bemerkenswerte Fähigkeit in der Komposition, schafft es durch eine subtil durchdachte Anordnung von Bildelementen den Inhalten mehr Ausdruck zu verleihen: Der hinter Jesus aufragende Baum unterstreicht beispielsweise seine kurz bevorstehende Auferstehung im goldenen Licht des Ostermorgens, während Maria Magdalena vor irdischer Bebauung kniet.
Die Farbe ist insgesamt ein zentrales Thema für die venezianische Renaissancemalerei. Im 16. Jahrhundert verbreiteten die beiden Theoretiker Giorgio Vasari und Lodovico Dolce den Topos, dass die Malerei in Florenz und Rom auf der Zeichnung (disegno) basiert –und im Gegensatz dazu Venedig durch die Kunst der Farbe (colorito) bestimmt ist.
Die besondere Affinität der venezianischen Maler zur Farbe lässt sich auch mit dem privilegierten Zugang zu den besten Pigmenten erklären. Die Künstler profitierten nämlich davon, dass Venedig ein Zentrum der Textil- und Glasindustrie war. Spezialisierte Farbenhändler öffneten hier erstmals ihre Geschäfte, während die Florentiner ihre Pigmente noch beim Apotheker kaufen mussten. Damit hatte Venedig gegenüber dem zweiten großen Kunstzentrum Florenz einen Wettbewerbsvorteil.
Tizian verewigte seinen vendecolore, wie die Händler genannt wurden, sogar in einem Porträt. Im Hintergrund auf der Fensterbank ist ein Pigmentkästlein mit Spatel zu sehen – die Farben scheint der Künstler gleich in dem darüber aufsteigenden Abendhimmel verarbeitet zu haben.
Besonders farbenfroh wird es bei Tizians sogenannter Madonna mit dem Kaninchen aus dem Pariser Louvre (ca. 1530). Das kräftige Blau von Marias Umhang und das beerige Rot ihres Kleides kontrastieren mit der grün-braunen Landschaft. Der in Gelb- und Orangetönen erstrahlende Himmel taucht die gesamte Szene dabei in ein warmes Licht, das das Geschehen verlebendigt und dadurch stimmungsvoll, geradezu göttlich auflädt. Tizian setzt aber nicht nur auf die Wirkung des Kolorits, er nutzt als Gestaltungsmittel auch ganz bewusst die sichtbar belassene, raue Struktur der Leinwand. Der Reiz dieser Oberfläche erschließt sich am besten vor dem Original.
Etwa zehn Jahre später schafft Tizian das Bildnis der Clarice Strozzi (1542), eines der frühesten eigenständigen Kinderporträts überhaupt. Aus der Entfernung wirkt das Bild recht fein gemalt – je näher wir ihm jedoch kommen, umso stärker löst sich die Malerei in manchen Partien auf. Die grob belassenen Pinselstriche und die Struktur der Leinwand werden klar sichtbar. Ein Detail des Kleides zeigt, wie radikal Tizian unterschiedliche Verfahren in ein und demselben Gemälde einsetzt: Clarice ist mit einem Duftdöschen geschmückt, dem sogenannten Bisamapfel, das Tizian bis hin zu den kleinen Edelsteinen detailgetreu wiedergibt. Gleichzeitig springen uns direkt daneben breite weiße Pinselstriche ins Auge, die das Kleid der Zweijährigen in prächtigem Glanz erstrahlen lassen.
Mit den Jahren wird Tizians Duktus immer expressiver und abstrakter. Eines der spätesten Gemälde in der Ausstellung entstand auch in seinen letzten Lebensjahren. Knabe mit Hunden in einer Landschaft ist wahrscheinlich eine eigenständige Bildererfindung Tizians – also keine Illustration einer bekannten Geschichte. Ebenso frei wie diese poesie, also fiktionale „Dichtungen“ – wie Tizian seine gemalten Mythologien selbst einmal bezeichnet hat – geht er in seiner Malweise vor.
Nur noch wenige Partien sind präzise ausgeführt. Vielmehr setzt sich das Bild größtenteils aus groben, schnellen Pinselstrichen und Farbtupfern zusammen. Dadurch mag es heute auf viele Betrachter äußerst modern wirken – schließlich sind wir an die Malerei des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts gewöhnt. Auch in der Tonalität verändert sich Tizians Farbpalette: Die Bilder werden immer düsterer.
Es ist bekannt, dass der Künstler im Alter sein Sehvermögen stark eingebüßt hat. Welche Auswirkung dies auf die Pigmentauswahl und die Art des Farbauftrags hatte, können wir heute schwer beurteilen. Auch wissen wir nicht, ob einige seiner späten Werke schlicht unvollendet geblieben sind. Ob gewollt „modern“ oder unfreiwillig unvollendet – sein Spätstil wird wohl immer rätselhaft bleiben.
Durch internationale Auftraggeber verbreitete Tizian seine Neuerungen dann in ganz Europa. Er malte bis ins hohe Alter und erfand sich immer wieder neu – und genau darin besteht eines seiner Erfolgsgeheimnisse: Selbst als eine jüngere Generation, allen voran Jacopo Tintoretto oder Paolo Veronese, ihren Platz auf dem venezianischen Kunstparkett forderte, ließ sich der „alte“ Tizian nicht abhängen, sondern entwickelte seinen Pinselstrich stets weiter, blieb konkurrenzfähig und innovativ.
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