Tizian ist der Star der neuen Städel Ausstellung – aber keineswegs der einzige Maler, den es zu entdecken gibt. Kurator Bastian Eclercy im Gespräch über eine Zeit, als Venedig „the place to be“ war.
Vor drei Jahren durften wir mit der Ausstellung „Maniera“ die Kunst des 16. Jahrhunderts in Florenz kennenlernen. Was erwartet uns jetzt bei „Tizian und die Renaissance in Venedig“?
Bastian Eclercy: Venedig ist neben Florenz das große Zentrum der Renaissance-Malerei in Italien. Wir befinden uns mit der Ausstellung wieder im 16. Jahrhundert, beginnen mit dem frühen Tizian und enden dort, wo sich die Werkstätten von Tintoretto und Veronese auflösen. Dabei gehen wir nicht chronologisch vor wie bei Maniera, sondern widmen uns ganz unterschiedlichen Themen und venezianischen Innovationen. Wir schauen uns Frauen- und Männerporträts an oder wie sich die Darstellung der Landschaft entwickelte.
Wie unterscheidet sich die Renaissancekunst in Venedig von der in Florenz?
BE: In Venedig entwickelt sich eine Renaissance, die vor allem auf die Wirkung von Licht und Farbe setzt. Wenn man die beiden Zentren ganz holzschnittartig einander gegenüberstellt, geht Florenz von der Zeichnung, dem disegno, aus, Venedig vom colorito. Colorito bezeichnet dabei nicht nur die Farbtöne, sondern auch den Farbauftrag. Während die Florentiner Gemälde von fast emaillehafter Glätte schaffen, belassen die Venezianer den Pinselstrich sichtbar. Vor allem Tizian treibt den freien Umgang mit der Farbe schließlich auf die Spitze. In seinem Spätwerk scheinen sich einzelne Bildpartien fast ins Abstrakte aufzulösen. Heute fragen wir uns, ob er damit bewusst einen ästhetischen Effekt angestrebt hat – oder ob manche Werke schlicht nicht vollendet wurden.
Inwiefern spielte die Stadt Venedig eine Rolle bei der Entwicklung dieser farbexplosiven Renaissance?
BE: Dass viele der Bilder so unglaublich differenziert in der Farbigkeit sind, hängt sicherlich mit der Rolle Venedigs als Handelsstadt zusammen. Durch die Textil- und Glasindustrie konnten sich die Maler nicht nur mit vielen, sondern auch den besten Pigmenten aus aller Welt versorgen. Während man andernorts die Farben beim Apotheker kaufen musste, bildete sich in Venedig der Farbenhändler sogar als eigener Beruf heraus.
Hat die Lagunenstadt selbst die Künstler auch inspiriert?
BE: Die spezielle Wirkung des Lichtes mag die Maler beeinflusst haben. Interessanterweise ist die Stadt selbst in der Kunst des 16. Jahrhunderts – für uns heute fast merkwürdig – abwesend. Ihre typische Topografie mit den vielen Kanälen taucht erst in der Vedutenmalerei des 18. Jahrhunderts auf. Die Venezianer der Renaissance träumen sich stattdessen aus ihrer Stadt heraus aufs Festland. Diese Landschaften überblenden sie mit einer Vision des antiken Arkadien.
Womit wir zu einem der zentralen Themen der venezianischen Renaissancekunst kommen. Stadtflucht und Landlust sind uns heute wieder sehr vertraut. Wie kam es damals zu dem Trend?
BE: Man muss bedenken, dass es so etwas wie Landschaftsmalerei in ihrer autonomen Form damals nicht gab. Wir befinden uns hier kunsthistorisch in einer Phase, in der die Landschaft jedoch immer weniger als rein dekorative Folie begriffen wird und ein Eigenleben entwickelt. Wie überall in der Renaissance studieren auch die Venezianer die Natur. Bei ihnen kommt allerdings noch eine weitere Komponente hinzu: Die antike Dichtung erlebt in Venedig ihr Revival, allen voran die sogenannte Bukolik, in der das friedliche Leben der Hirten in Arkadien besungen wird. Zeitgenössische Dichter greifen diese Gattung wieder auf. Die Werke finden durch regelrechte Taschenbuchausgaben Verbreitung. Die venezianischen Landschaften sind ein Ausfabulieren dessen, was man in dieser beliebten Dichtung vorfindet. Sie werden zum Stimmungsträger, der ein Bild mit einer besonderen Atmosphäre auflädt.
Kommen wir zurück zu Tizian. Seine Schaffenszeit von gut 70 Jahren deckt sich mit dem Zeitraum der Ausstellung. Welche Rolle spielte er in Venedig?
BE: Man kann Tizian in einem Atemzug mit dem Dreigestirn Michelangelo, Raffael und Leonardo nennen. Er wird mit dem Tod Bellinis – bis dahin der Grandseigneur der venezianischen Malerei – zum wichtigsten Maler der Stadt. Erst Tintoretto und Veronese machen ihm ab der Jahrhundertmitte wirklich Konkurrenz. Aber da hatte Tizian bereits als einziger venezianischer Künstler seiner Zeit europäisches Parkett betreten, arbeitete für die oberitalienischen Fürstenhöfe, den deutschen Kaiser, den Papst in Rom und den spanischen König.
Was zeichnet Tizian künstlerisch als „Malerstar“ seiner Generation aus?
BE: Tizian lässt sich nur schwer in eine Schublade stecken. Wir haben in der Ausstellung gut 20 Werke von ihm versammelt – so viele wie noch nie zuvor in Deutschland. Sie zeigen, wie vielgestaltig seine Kunst ist: Ein frühes Gemälde wie unser eigenes Jünglingsporträt mit seiner Feinheit, Stille und Poesie steht in völligem Kontrast zu seinem wilden Spätwerk mit den fast gestischen Pinselstrichen.
Tizian macht eine große Entwicklung durch und ist zudem in allen Gattungen tätig. Eine Besonderheit sind seine sogenannten poesie, also Gemälde, die er selbst als Dichtungen versteht. Mit ihnen stellt er sich auf eine Stufe mit den Literaten seiner Zeit. Tizian will nicht nur illustrieren, sondern selbst Geschichten erzählen. Vor allem darin liegt seine besondere Stärke, die sich von seinem Frühwerk bis ins Spätwerk zieht.
Können wir uns ein Beispiel anschauen?
BE: Eines seiner herausragenden Frühwerke, das Noli me tangere, erzählt die Geschichte, wie Christus Maria Magdalena nach der Auferstehung begegnet. Sie hält ihn zunächst für den Gärtner. Als sie ihn erkennt und berühren möchte, hält Christus sie davon ab. In dem Gemälde weist er sie jedoch nicht brüsk zurück, sondern wendet sich ihr sogar zu, nur sein Unterkörper schwingt zurück.
Unterstützt durch die stimmungsvolle Landschaft interpretiert das Gemälde diese Begegnung ungemein subtil. Es gibt keine verschlüsselte Symbolik, die man erst einmal verstehen muss. Man kann sich die Story durch sensibles Betrachten selbst erschließen. Diese Kombination aus ausgeklügelter Komposition, Atmosphäre, Lebendigkeit und Natürlichkeit – das schafft in dieser Zeit vielleicht niemand so wie Tizian. Er muss ein aufmerksamer Beobachter menschlichen Verhaltens gewesen sein.
Wie reagieren die anderen Künstler auf Tizian?
BE: Tizians freie und empfindsame Art mit Geschichten umzugehen beeinflusst die Folgegeneration um Tintoretto und Veronese sicherlich stark. Trotzdem sind diese Künstler keine folgsamen Tizian-Nachfolger. Veronese beispielsweise kommt Anfang der 1550er-Jahre aus Verona nach Venedig und ist schon ein fertig ausgebildeter Maler mit eigenem Stil.
Interessant ist, dass sich der Einfluss in beide Richtungen bewegt: vom älteren Tizian zu den Jüngeren und umgekehrt. Besonders schön kann man dieses Wechselspiel anhand dreier Porträts nachvollziehen: Bei seinem Stuttgarter Bildnis eines 28-jährigen Mannes durchbricht der junge Tintoretto den neutralen Hintergrund. Ganz offensichtlich lässt sich Veronese bei seinem Bildnis eines Mannes mit Luchspelz aus Budapest hiervon beeinflussen. Und Tizian lässt sich wiederum von beiden jüngeren Kollegen inspirieren. Da ist Tizian schon Ende 60! In Venedig spielen die Maler künstlerisches Ping-Pong auf Augenhöhe.
Was zeichnet die jüngere Generation aus?
BE: Auch die anderen Künstler lassen sich nur schwer mit Schlagworten fassen. In Venedig treffen sich Individualisten, die einen freien Umgang mit der Malerei teilen. Lorenzo Lotto oder Jacopo Bassano gehen etwa ganz eigene Wege. Es lohnt sich, die venezianische Kunst in ihrer Vielfalt wahrzunehmen statt sie auf einzelne Merkmale runterzubrechen. Daher haben wir uns für eine thematische Aufteilung entschieden. Es ist spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Themen jeweils von den Künstlern umgesetzt werden.
Wie geht es mit der venezianischen Renaissance und der Ausstellung zu Ende?
BE: Nun, zuerst stirbt Tizian und in den darauffolgenden Jahrzehnten Veronese und Tintoretto. Die Werkstätten halten sich nicht lange, zumal im 17. Jahrhundert der Niedergang Venedigs einsetzt, wirtschaftlich und künstlerisch. Was nicht niet- und nagelfest ist, wird verkauft. So verbreiten sich die Gemälde rasant. Heute sind die meisten transportablen Stücke auf der ganzen Welt verstreut. In London, Madrid und Wien finden wir mehr Bilder von Tizian als in Venedig selbst.
Interessant und mir besonders wichtig ist die Wirkungsgeschichte der venezianischen Renaissance. Viele Künstler und Perioden der Kunstgeschichte sind zwischendurch völlig in Vergessenheit geraten. Die Begeisterung für Tizian und seine Kollegen zieht sich jedoch kontinuierlich vom 16. Jahrhundert bis in die Moderne durch – von El Greco, Rubens und Guercino über Géricault und Délacroix bis hin zu Cézanne. Die Freiheit dieser Malerei kommt uns heute noch vertraut vor. Wir widmen der Rezeptionsgeschichte daher auch unser Schlusskapitel.
In Deutschland gab es zur venezianischen Renaissance noch keine große Übersichtsausstellung. Womit sollen die Besucherinnen und Besucher aus der Ausstellung rausgehen?
BE: Das hat uns tatsächlich auch gewundert. In der Kunstgeschichte ist die venezianische Renaissance ein Klassikerthema, es gibt unendlich viel Literatur dazu. Aber in der Öffentlichkeit? Viele kennen sicherlich Tizian, ohne vielleicht besonders viel über ihn zu wissen. Tintoretto hat man schon mal gehört. Aber Sebastiano del Piombo oder Lorenzo Lotto? Ich hoffe, dass Tizian die Besucherinnen und Besucher anzieht – aber jeder mit einem neuen persönlichen Favoriten rausgeht.
Dein Favorit?
BE: Ganz klar, Sebastiano del Piombos Dame in Blau.
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