Navigation menu

Städel Museum Städel Museum

Mittler zwischen Moderne und Gegenwart

Ernst Wilhelm Nays „Rotklang“ kam vor 55 Jahren in die Sammlung Gegenwartskunst. Noch heute hängt das Gemälde dort an zentraler Stelle, als Mittler zwischen Moderne und Gegenwart.

Jenny Graser — 26. Januar 2018

Steigt man heute die Treppen zur Sammlung der Gegenwartskunst hinab, so befindet sich Ernst Wilhelm Nays (1902–1968) Rotklang in den weitläufigen Gartenhallen: Tief verankert in der zeitgenössischen Kunst ist es gleichzeitig ein Anknüpfungspunkt für all jene, die gerade aus der Sammlung der Moderne kommen, die im ersten Stockwerk gelegen ist. Rotklang war eines der zentralen Ankäufe zeitgenössischer Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ernst Holzinger – der das Städel von 1937 bis 1974 leitete – war das Gemälde 1962 in einer Ausstellung im Essener Folkwang-Museum anlässlich des 60. Geburtstags von Nay begegnet, kurze Zeit später erwarb er es direkt beim Künstler und legte damit den Grundstein für die heute umfangreiche Sammlung von Werken Nays im Städel Museum. Zudem ist es das einzig monumentale und prominente Werk unter den wenigen Arbeiten nach 1945, die Ernst Holzinger für das Städel ankaufte.

Ernst Wilhelm Nay, Rotklang, 1962

Ernst Wilhelm Nay, Rotklang, 1962, Mischtechnik auf Leinwand, 240 x 190 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, © VG Bild-Kunst, Bonn

Wegbereiter der abstrakten Malerei

Rotklang reiht sich ein in Nays abstrakte Bildserie der sogenannten Scheibenbilder, die zwischen 1954 und 1962 entstanden. In einem zwei Jahrzehnte andauernden Prozess hatte sich Nay zunehmend von der gegenständlichen Malerei entfernt. Frühere Gemälde und Zeichnungen zeigen Dünen und Fischer, Berge und Seen. In den 1940er Jahren wurden die Farbflächen zunehmend autonomer, Körper und Gegenstände traten zurück. Mit den Scheibenbildern fand Nay – ein Einzelgänger, der sich keiner Künstlergruppierung anschloss, aber dem deutschen Informel nahestand – schließlich endgültig zu seiner abstrakten Bildsprache.

Nay_Lofotenlandschaft_Ausfahrt-der-Fischer

Ernst Wilhelm Nay, Ausfahrt der Fischer, 1937, Öl auf Leinwand, 115 x 155 cm (links); Ernst Wilhelm Nay, Lofotenlandschaft mit See und Kahn, 1938, Aquarell über Bleistift auf geripptem Bütten, 485 x 632 mm (rechts), Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn

Ernst Wilhelm Nay, Zwei Figuren, 1948

Ernst Wilhelm Nay, Zwei Figuren, 1948, Gouache über Bleistift auf Papier, 225 x 287 mm, Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn

Von Scheiben und Kreisen

Nay gelangte durch ein Experiment zur Scheibenform: Mit dem Pinsel hatte er einen Farbklecks auf die Leinwand gesetzt und zu einer Scheibe ausgebreitet. In Rotklang füllen über- und nebeneinandergesetzte Kreisformen in leuchtendem Rot, Orange und Gelb die gesamte Bildfläche. Aus reinen Farbflächen gestaltete Scheiben wechseln sich mit Rädern ab, deren Konturen mit einem breiten Pinselstrich gezogen oder deren Innenflächen von Schraffuren überlagert sind. Stellenweise scheint ein intensives Blau hindurch und lässt eine tieferliegende Farbschicht erahnen.

Die Form der Scheibe weist keine Ähnlichkeit mit gegenständlichen Motiven auf. Die Scheiben bilden nichts ab, sie sind selbstreferentiell, identisch mit sich selbst. Farbe und Darstellung fallen also wie in der Malerei des Abstrakten Expressionismus zusammen. Nay hat die Scheiben einander vollkommen gleichwertig angeordnet. Ihre Überschneidungen und ihre unterschiedlichen Maßstäbe erzeugen räumliche Verhältnisse, ohne dass die Illusion eines perspektivisch angelegten Raumes entsteht.

Die Bilder sind lebendig bewegte Raumgebilde.

Ernst Holzinger, ehemaliger Städel Direktor

Nay kombinierte Farbtöne miteinander, die mal hervortreten, mal zurückweichen. „Die Bilder sind lebendig bewegte Raumgebilde, darum verflachen sie nicht zur Dekoration, sondern bleiben wie sie entstanden: Ereignisse“, so beschrieb Ernst Holzinger die Scheibenbilder. Durch das Spiel mit den Ebenen wird die Fläche zum Schwingen gebracht. Zudem können Vorder- und Hintergrund nicht mehr voneinander getrennt werden, sie verschmelzen miteinander, ähnlich Jackson Pollocks Drip Paintings, die ebenfalls dem Prinzip des All-over folgen.

Während Pollock allerdings den Zufall in seinen Gestaltungsprozess einbezog, kontrollierte Nay seinen Arbeitsprozess. Er bereitete seine Bilder präzise vor, ließ sich dann aber bei der Ausführung durchaus von dem Bewegungs- und Expansionsdrang der Farbe leiten. In seinen Arbeiten um 1960 tritt der Malgestus besonders deutlich hervor. Er resultiert jedoch allein aus dem Ausbreiten der Farbe und nicht – wie bei Pollock – aus einem psychologisch und physiologisch begründeten Bewegungsimpuls.

Von der Moderne in die Gegenwart

In Nays Scheibenbildern treffen entscheidende Merkmale der Nachkriegskunst zusammen: der Übgergang von der Figürlichkeit zur Abstraktion, die Selbstreferentialität des Bildgegenstandes, das Auflösen von Hierarchien, die Abwendung von der illusionistischen Perspektive.

Vor allem aber stellt Rotklang die Malerei als Malerei zur Schau. Dieser Anspruch wurde parallel in der informellen Malerei der Künstlergruppe Quadriga (Karl Otto Götz, Heinz Kreutz, Bernhard Schultze, Otto Greis) verfolgt, und fand seine Fortsetzung in der neoexpressionistischen Malerei von Markus Lüpertz, A. R. Penck, Jörg Immendorff oder Georg Baselitz, die sich wiederum in Abgrenzung zum Informel der gegenständlichen Malerei zuwandten. Die Tendenz entwickelt sich weiter in den leuchtenden Gemälden von Michel Majerus oder den raumgreifenden Assemblagen von Isa Genzken. Zwischen all diesen Positionen steht Nays Rotklang heute auch ganz physisch in den Gartenhallen des Städel – als Vermittler zwischen Moderne und Gegenwart.

Majerus_MoM-Block_isa_genzken_wind

Michel Majerus, MoM Block nr. 27, 1998, Acryl auf Leinwand, 200 x 179,5 cm, Städel Museum (links) © Estate Michel Majerus; Isa Genzken, Wind I (David), 2009, Spiegelfolie, C-Prints, Sprühfarbe, Lack, Klebeband und Metall auf Plastikfolie, 198 x 300 cm, Städel Museum, © VG Bild-Kunst, Bonn


Jenny Graser widmet sich als wissenschaftliche Mitarbeiterin den deutschen Zeichnungen des 20. Jahrhunderts im Städel Museum und taucht damit in die künstlerischen Strömungen vom Übergang der Moderne in die Gegenwart ein.

Wer tiefer einsteigen möchte in die Gegenwartskunst, dem empfehlen wir unseren kostenlosen und zeitlich flexiblen Onlinekurs.

Diskussion

Fragen oder Feedback? Schreiben Sie uns!

Mehr Stories

  • Moholy_Nagy_Staedel_Blog_hoch
    In die dritte Dimension

    László Moholy-Nagy und das Bauhaus

    „Ist es richtig, in den Zeiten einer sozialen Umwälzung Maler zu werden?“, fragte sich Lázló Moholy-Nagy 1919. Ja, entschied er schließlich. Über den revolutionären Künstler und Bauhaus-Lehrer.

  • staedelmuseum_aussenansicht_gartenhallen
    Städelkomitee feiert Jubiläum

    159 Werke in zehn Jahren

    Das Städelkomitee 21. Jahrhundert ist ein deutschlandweit einzigartiges Gremium, das uns den Ankauf zeitgenössischer Kunst ermöglicht. Zum ersten runden Geburtstag blicken wir auf die schönsten Erwerbungen.

  • Frank-Stella_Cieszowa-III_1973
    Neu im Städel

    Frank Stellas Aufbruch in den Raum

    Frank Stella gehört zu jener Künstlergeneration, die seit den 1960er-Jahren die Malerei in den Raum erweitert hat. Die Serie Polish Village stellt einen Wendepunkt in seinem Schaffen dar.

  • st_presse_DritteDimension_ausstellungsansichten-(1)_blog
    In die dritte Dimension

    Raumkonzepte auf Papier

    Grenzen, Innen und Außen, Form und Volumen – diese Grundelemente definieren Raum. Doch wie wird das Dreidimensionale in der Fläche dargestellt? Dieser Frage widmet sich nun eine Ausstellung im Städel.

Newsletter

Wer ihn hat,
hat mehr vom Städel.

Aktuelle Ausstellungen, digitale Angebote und Veranstaltungen kompakt. Mit dem Städel E-Mail-Newsletter kommen die neuesten Informationen regelmäßig direkt zu Ihnen.

Beliebt

  • Giorgio Sommer, Amalfi Uferpromenade, ca 1860-1870, Städel Museum, Public Domain
    Mitmachen auf Instagram

    Wann hatten Sie #italienvoraugen?

    Egal ob die nächste Reise nach Bella Italia in Kürze ansteht, ihr euch an tolle Trips erinnert oder zuhause Italien-Feeling aufkommen lasst: Macht mit und zeigt uns Italien durch eure Augen!

  • Unbekannter Fotograf, Roederstein zwischen zwei Selbstporträts, 1936
    Das Roederstein-Jughenn-Archiv

    Aus dem Leben einer Künstlerin

    2019 erhielt das Städel Museum als großzügige Schenkung aus Privatbesitz ein umfangreiches Konvolut des Nachlasses von Ottilie W. Roederstein. Seitdem wird der Archivschatz nach und nach gehoben. Wir stellen ihn vor.

  • Sammlungsbereich Kunst der Moderne, Ausstellungsansicht, Foto Städel Museum Norbert Miguletz
    Fünf Fragen zur Umgestaltung

    Neue Nachbarschaften

    Wie wirken die Publikumslieblinge aus dem Sammlungsbereich Kunst der Moderne durch die neuen Wandfarben und was sind die persönlichen Highlights der Kuratoren? Alexander Eiling, Juliane Betz und Kristina Lemke geben Einblicke.

  • Umbau 2021 Alte Meister Katrin Binner 5
    Philipp Demandt im Interview

    Neue Farben für Alte Meister

    Da tut sich was! Wieso die Alten Meister gerade jetzt geschlossen sind und auf was wir uns freuen können, wenn der Sammlungsbereich im Herbst wieder öffnet, verrät Direktor Philipp Demandt im Interview.

  • Erich Salomon, Lugano, Dezember 1928, 1928, Silbergelatine-Abzug auf Barytpapier, © Erich Salomon
    Zeitschriften der letzten 100 Jahre

    Was uns das Gestern über das Heute sagt

    Was gute Pressefotografie ausmacht haben wir einen gefragt, der es wissen muss: Kommunikationswissenschaftler Patrick Rössler sammelt seit über 30 Jahren Zeitschriften als Zeugnisse der Alltagskultur.