Es begann mit einer Postkarte und einem einzigen Satz: „Es lebe die Malerei!“, schrieb Matisse seinem Künstlerkollegen Bonnard 1925. Ein Briefwechsel über Freundschaft, Grippe, Ängste und die Kunst.
ich rate Ihnen und Ihrer Frau, alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um die Grippe zu vermeiden, die zur Zeit überall umgeht. Ich habe sie mir vor zehn Tagen durch eine kleine Unvorsichtigkeit geholt. Ich setzte mich der Zugluft aus, das hätte ich lassen sollen. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich sehr stark fühle. Ich habe dafür bezahlt. Ich war 5 Tage im Bett mit Fieber und einer Bronchitis, die noch nicht überstanden ist. (…) Indem ich wieder und wieder mein Gewissen erforschte, kamen mir mehrere Gedanken, die ich soeben für Sie aufgeschrieben und dann zerrissen habe. Solche Gedanken gehören zur Grippe. Ich habe nicht das Recht, sie Ihnen mitzuteilen, nicht mehr, als Ihnen meine Grippemikroben zu schicken.
Im Gespräch erhalten die Dinge eine Leichtigkeit, so daß man alles sagen kann. Zusammen mit jemandem, der ja die Frage selbst vorbereitet hat, kann man sich in luftige Höhen aufschwingen. Aber Schreiben ist schwieriger. Die Gegenargumente kommen einem ganz von selbst und wirken lähmend. Die Wahrheit ist, daß ein Maler eben nur mit der Palette in der Hand existiert und dann tut, was er kann. Aber lassen Sie mich unterdessen sagen, was alle Alten sagen, daß die Theorie nämlich eine etwas keimfreie, ärmliche Angelegenheit ist. Das wurde schon so oft gesagt, daß es nicht mehr trägt. Man müßte 20 Jahre jünger sein.
28. Januar 1935
ich hoffe, daß Sie ganz wiederhergestellt und in guter Verfassung sind, wenn Sie diesen Brief erhalten, und es war ein guter Einfall, mich vor Ihren und den anderen Mikroben gewarnt zu haben. Ich war auch ein wenig angeschlagen, aber ohne Fieber, und ich achte immer noch sehr darauf, nicht den jungen Mann zu markieren. (…)
Dennoch habe ich gearbeitet, mit einer Nase, triefend wie Kompott, und einem Hals wie Grillfleisch. Darüber bin ich den ganzen Tag ins Nachdenken gekommen. Ich bin Ihrer Meinung, daß das einzig solide Terrain des Malers Palette und Farben sind, aber sobald die Farben eine Illusion verwirklichen, beurteilt man sie nicht mehr ausreichend kritisch, und die Dummheiten fangen an. Im Augenblick gehe ich auf dem Land spazieren und versuche es zu betrachten, wie ein Bauer es täte.
Februar 1935
mit Vergnügen schreibe ich Ihnen, daß mein erster Gedanke heute morgen Ihnen galt. Ich habe Ihre Arbeit genau in Erinnerung behalten. Nie zuvor habe ich sie als so geschlossen empfunden, und die Dekoration mit der Fläche aus Rosensträuchern sehe ich noch ganz deutlich vor mir, sie gefällt mir sehr. Auch Ihr blaues Seestück; ich bedaure, daß ich den Rosenstrauß nicht vollständig gesehen habe. Ich hatte mir vorgenommen, ihn vor meiner Abfahrt zu betrachten, aber die Zeit war zu knapp und die Unterhaltung zu interessant (ich sprach von mir), so wurde ich daran gehindert. Nur Mut, mein Alter, es wird gutgehen…
Meine lieben Grüße an Sie beide, Henri Matisse
Matisse an Bonnard, 8. Januar 1940, über dessen Gemälde „Sonnige Terrasse“
ich freue mich, daß meine Untersuchungen Ihnen gefallen. Wenn ich an Sie denke, denke ich an einen von aller überkommenen ästhetischen Konvention befreiten Geist. Dies allein gestattet eine direkte Sicht auf die Natur, das größte Glück, das einem Maler widerfahren kann. Dank Ihnen habe ich ein wenig daran teil.
Auf bald hoffentlich, Bonnard
Januar 1940
nach einer ziemlich unangenehmen Reise bin ich seit ungefähr zehn Tagen wieder in Nizza. Ich habe mich zurück ans Werk gemacht, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, aber hier herrscht eine so trübe Stimmung, eine allgemeine Beklemmung wegen all dem, was wieder und wieder über die bevorstehende Besatzung von Nizza erzählt wird (ziemlich grundlos, da bin ich sicher), daß es mich doch sehr berührt, es steckt mich an, meine Arbeit wird erschwert, führt zu keinem Ergebnis.
Ich glaube, daß mir ein Besuch bei Ihnen außerordentlich guttäte. Gewiß würde der Anblick Ihrer Malerei helfen, die Wand abzutragen, die ich im Augenblick vor der Nase habe, und er ließe mich die Dinge, vor allem meine Arbeit, leichter, direkter angehen. Aber auf welchem Weg kann ich nach Le Cannet hinaufkommen? (…)
Bis dahin sende ich Ihnen meine lieben Grüße, Henri Matisse
September 1940
ich werde morgen früh versuchen, Sie anzurufen. Seit einiger Zeit bin ich geradezu Gefangener meines Berges, da ohne Auto, versteht sich (…) Trotz allem wurde ich Sie gerne sehen, weil mich materielle Sorgen und die unsichere Zukunft sehr beschäftigen und ich befürchte, daß mich ohne die Freiheit des Geistes die Malerei im Stich lassen könnte. Auf alle Fälle werde ich Dienstag nachmittag zu Hause sein. Ich habe hier nichts von den Gerüchten über Nizza gehört, die man, wie Sie sagen, in Umlauf bringt. Ich hoffe, daß die Katastrophe nicht eintritt.
Ganz der Ihre, Bonnard
September 1940
(…)Ich danke Ihnen, daß Sie mir helfen wollen, etwas zu finden, aber ich habe darauf verzichtet, Nizza und mein Atelier zu verlassen, wo ich vor zwei Jahren Wurzeln geschlagen habe. Ich kann mir nicht vorstellen, anderswo wieder von vorne anzufangen. Ich werde nicht von hier fortgehen, außer man zwingt mich dazu. Mir ist gerade angeboten worden, in San Francisco an einer Kunstschule Stunden zu geben, an der schon Jules Romains unterrichtet hat. Ich habe abgelehnt. Dafür gibt es tausend Gründe - und dann paßt es nicht zu mir, in einem solchen Augenblick aus Frankreich zu fliehen, obwohl ich nicht weiß, was mir die Zukunft bringen wird. Wer weiß das schon? (…)
Ihnen beiden herzlich verbunden, der Ihre, H. Matisse
Oktober 1940
ich konnte Ihnen in meinem gestrigen Brief nicht schreiben, wie sehr ich den Schmerz über den Tod Ihres geliebten Bruders teile, ich erfuhr davon in einem Brief vom 4. März, und am 3. bin ich so rücksichtslos von meinem jüngsten Infarkt geschlagen worden, daß mein Leben mehrere Tage an einem seidenen Faden hing. (...)
In unserem Alter, mein lieber Freund, muß man den Tod unserer Lieben, die den Weg ihres unvermeidlichen Schicksals gehen, mit größtmöglichem Gleichmut hinnehmen – und das Glück preisen, das uns, die wir Zurückbleiben, bis hierher geführt hat.
Rodin sagte, es brauche ein Zusammenwirken außergewöhnlicher Umstände, einen Menschen 70 Jahre alt werden und ihn das Glück genießen zu lassen, mit Leidenschaft dem nachzugehen, was ihm gefällt. Wir sind Begünstigte, vergessen wir das nicht.
Ihnen beiden ganz herzliche Grüße, Henri Matisse
April 1941
ich muß Ihnen eine sehr traurige Nachricht mitteilen. Nach einmonatiger Lungenkrankheit, die gleichzeitig mit einer Erkrankung der Verdauungswege auftrat, ist meine arme Marthe an Herzstillstand gestorben. Sie liegt nun seit 6 Tagen auf dem Friedhof von Le Cannet begraben. Sie können sich meinen Schmerz und meine Einsamkeit voller Bitterkeit vorstellen und meine Sorge um das Leben, das ich noch führen kann. (…)
Ihr Bonnard
Februar 1942
Ihr Unglück, von dem ich soeben erfahren habe, betrübt mich sehr. Ich bedaure, daß meine Gesundheit mich daran hindert, zu Ihnen zu kommen. (…) Ich wünsche Ihnen viel Mut und daß die Arbeit, der Sie sich gewiß so bald wie möglich wieder zuwenden werden, den Schmerz lindern möge.
Herzlichst, Henri Matisse
Februar 1942
Ihre 2 Bilder zieren (das ist das Wort) mein Eßzimmer, vor ockerfarbenem Hintergrund, was ihnen gut steht. Vor allem der Frau mit dem Halsband, deren Rot abends herrlich ist. Tagsüber spielt Blau die Hauptrolle. Welch ein intensives und vielfältiges Leben die Farben in diesem Licht doch führen! Mir fällt jeden Tag etwas auf, und ich danke Ihnen für diese Freude und diese Belehrung.
Ganz der Ihre, Bonnard
Mai 1946
Abb. oben: Postkarte von Henri Matisse an Pierre Bonnard (Rückseite), 13 August 1925, Privatbesitz © Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2017
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