Marthe, immer wieder Marthe: Die ewig junge Frau taucht in fast 400 Gemälden Pierre Bonnards auf. Wer war die geheimnisvolle Muse, die ihn zu vielen seiner kühnsten Kompositionen inspirierte?
In der Stadt der Liebe kann man schon mal an der nächsten Straßenecke in eben jene hineinlaufen. Im Falle des 26-jährigen Pierre Bonnard war es eine hübsche Veilchenverkäuferin: Marthe de Méligny – der Künstler verfiel ihr sofort. So begann 1893 eine vier Jahrzehnte andauernde Partnerschaft, die Bonnards Werk nachhaltig beeinflussen sollte, über den Tod der geheimnisvollen Marthe hinaus. Dass ihr Name eigentlich ein ganz anderer war, dazu später mehr.
Kein anderes Thema ist derart eng mit Bonnards Schaffen verbunden wie die Gestalt Marthes. Sie begegnet uns auf fast 400 Gemälden, beinahe immer im heimischen Ambiente und meist in intimen Situationen: badend, sich kleidend, frisierend – ohne dass sie dabei jemals altern würde. Die Beziehung der beiden mag reich an Konflikten gewesen sein, in Bonnards Kunst war und blieb Marthe jedoch die ewig junge Göttin.
Jenseits der Kunst scheint das Leben mit dieser Göttin nicht immer ein einfach gewesen zu sein. Marthe litt mit fortschreitendem Alter zunehmend an körperlichen und wohl auch an psychischen Problemen. In Briefen klagte der Maler von nicht heilbaren „Wahnvorstellungen“. Später zog sich Marthe nahezu vollkommen in die einsiedlerische Abgeschiedenheit ihres gemeinsamen Landhauses Le Bosquet zurück. Freunde des Paares bezeichneten sie spöttisch als Bonnards „Kerkermeister“.
In Bonnards Interieurs, die das gemeinsame Leben in Le Bosquet zum Thema haben, schwingt oft ein dräuender Unterton mit. Das traute Heim wird in den Bildern zum befremdlichen, zuweilen unheimlichen Ort – und Marthe selbst zur seltsam passiven, geisterhaften Gestalt.
Eins dieser Interieurs ist Das Esszimmer von 1925. Neben Marthe, die sich rechts über den gedeckten Tisch beugt, erscheint eine zweite weibliche Figur: Renée Monchaty, ein junges Modell. Jahrelang führte Bonnard mit ihr eine Liaison, bis er Renée 1921 schließlich einen Heiratsantrag machte – und Marthe ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie zwang ihn, die Verlobung aufzulösen. Zahlreiche Werke, für die Renée Modell gestanden hatte, vernichtete Bonnard und entschloss sich 1925 – also nach 30 Jahren „wilder Ehe“ – dazu, Marthe zu heiraten. Ihren wahren Namen, Maria Boursin, sollte der Maler erst bei der standesamtlichen Trauung erfahren.
Das Esszimmer vermittelt einen klaren Eindruck der zeitweiligen Rivalität zwischen Marthe und Renée: Wie eine unüberwindbare Barriere klafft das weiße Tischtuch zwischen den an die Ränder des Bildes gedrängten Figuren. Keine Kommunikation, keine Geste verbindet die in sich gekehrten Frauen. Traurig und abgewandt liegt Renées Gesicht im Schatten. Bald nach der Hochzeit zwischen Marthe und Bonnard nahm sie sich das Leben.
Marthe selbst blieb nach der Hochzeit für weitere zwei Jahrzehnte im Zentrum der künstlerischen Praxis ihres Mannes. Auch in späten Arbeiten wie Akt vor dem Spiegel (1931) erscheint die damals über 60-Jährige noch jugendlich und grazil – eine Gebieterin der Imagination, untrennbar verbunden mit der kreativen Einbildungskraft ihres Mannes.
Marthes Tod im Winter 1942 erschütterte Bonnard zutiefst. Einer der wenigen Freunden, denen er sich in dieser Zeit anvertraute, war Henri Matisse: „Ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht mitteilen. Nach einmonatiger Lungenkrankheit […] ist meine arme Marthe an Herzstillstand gestorben […]. Sie können sich meinen Schmerz und meine Einsamkeit voller Bitterkeit vorstellen und meine Sorge um das Leben, das ich noch führen kann.“
Die Muse war aus seinem Leben verschwunden, nicht jedoch aus seiner Kunst. Weiterhin taucht Marthe, die vielleicht nirgendswo lebendiger war als in Bonnards Imagination, in dessen Arbeiten auf. Eines der letzten vollendeten Werke des Künstlers ist das bereits in den frühen 1920er-Jahren begonnene Bild Junge Frauen im Garten, ein Doppelporträt von Marthe und ihrer einstweiligen Rivalin Renée. Vier Jahre nach Marthes Tod zeigt es beide Frauen friedlich vereint vor der paradiesischen Kulisse einer sonnenbeschienenen Gartenlandschaft.
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