Er galt lange Zeit als „verspäteter Impressionist“, ein aus der Zeit gefallener Maler des Glücks. Dabei stecken Bonnards Gemälde voller Tiefgang, Ambivalenz und fesselnder Spannung.
Eine nackte Frau auf einer blau-weiß-kartierten Decke – das Motiv ist auf beiden Bildern identisch. Und doch könnten sie unterschiedlicher nicht wirken. Mehr noch stehen Liegender Akt auf weißblau kariertem Grund und Großer liegender Akt für zwei Maler, die in der Kunstgeschichte oft entgegengesetzten Strömungen zugeordnet werden: Matisse, mit seinem Einsatz klarer grafischen Strukturen und seiner Ästhetik stark reduzierter Formen, gilt als ein Pionier der Abstraktion. Sein Künstlerfreund Pierre Bonnard hingegen, mit seinen oft verträumt anmutenden Bildern und zarten, flirrenden Farbschattierungen, wird immer noch oft als eine Art verspäteter Impressionist eingestuft. Es sind zwei vereinfachende Labels der Kunstgeschichte. Gerade bei Bonnard versperrt diese Schublade einen offenen Blick auf sein vielschichtiges Werk.
In der Kunst des 20. Jahrhunderts nimmt Pierre Bonnard eine Sonderstellung ein. Seit den 1890er-Jahren hatte er sich als führender Vertreter der französischen Moderne etabliert – und hielt diesen Ruf über fünf Jahrzehnte, bis zu seinem Tod 1947, aufrecht. Selbstbewusst ging er seinen eigenen Weg und entwickelte eine unverkennbar eigene Form- und Farbsprache. Eine erstaunliche Leistung, zumal er sein ganzes Leben lang nahezu unberührt von den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit blieb.
Mit seinem luftigen, lockeren Pinselduktus und lichtdurchfluteten Landschaftsbildern galt Bonnard manchen seiner zeitgenössischen Kritiker als ein komplett aus der Zeit gefallener Maler des Glücks. Gerade während des Zweiten Weltkriegs wurden seine Werke oft als Inbegriff einer hedonistischen Lebensfreude verkannt: ein „Maler des Wunderbaren“, assoziiert mit„ewiger Kindheit“ und einer „immerwährenden Zeit vor dem Krieg, friedlich und ruhig“.
Aus heutiger Sicht erscheint eine solche Lesart Bonnards komplexer Malerei nur schwer nachvollziehbar. Denn tatsächlich findet sich in vielen seiner Kompositionen eine ungelöste Spannung – eine Metaphorik der Beunruhigung, die unter der Fassade visueller Opulenz hervorzubrechen droht. Gerade seine Interieurs sind aufgeladen mit ambivalenter Stimmung: Seltsam passiv, wie in Trance wirken die meist weiblichen Figuren, die seinen Innenraum-Szenen einen oft befremdlichen Charakter verleihen. Geheimnisvolle Farbverläufe, irritierende Blickachsen und abrupte Fragmentierungen – oft durch Fensterblicke oder Spiegelungen – verleihen ihnen eine ungelöste Spannung. Schwer nur findet sich unser Auge in diesen Darstellungen zurecht, denen ein unverkennbar dräuender Unterton innewohnt.
Auch die zahlreichen Darstellungen seiner Frau Marthe, die er über 50 Jahre in zahllosen intimen Szenen festhielt, strafen eine Einschätzung Bonnards als weltentrückten Maler des Glücks Lügen. In Frau, aus dem Bad steigend begegnet sie uns als ein geradezu gespenstisches Wesen: Wie zu Stein erstarrt erscheint ihr linkes Bein, während der schwere Bademantel ihren leblos wirkenden Körper wie ein Leichentuch umhüllt. Typisch für Bonnards Akte ist ihr gesenkter Kopf. So gut wie immer verwehren sie dem Betrachter jeglichen Blickkontakt, wenden sich von ihm ab oder kehren ihm geradezu provokant den Rücken zu.
Wie sein Künstlerkollege Matisse – und entgegen vieler Avantgardeströmungen seiner Zeit – ging Bonnard in all seinen Arbeiten von der Natur aus. Und doch ist keines seiner Werke eine einfache Kopie von Gegenständen oder Szenen. Bezeichnenderweise malte Bonnard grundsätzlich nicht vor dem Motiv. Stattdessen entstanden seine Gemälde aus der Erinnerung und Einbildungskraft, in einem komplett leeren Atelier. Lediglich kleinformatige Skizzen auf Papier dienten ihm hierbei als Gedächtnisstützen. Auch dieses Vorgehen erklärt die oft irritierend traumartige Wirkung seiner Werke.
Oft umgibt ein vibrierender Farbschleier Bonnards Bildräume. In Akt vor dem Spiegel begegnen wir einem brillanten Netzwerk sich entmaterialisierender Objekte. Auch Marthes Körper fügt sich nahtlos in das pulsierende Umfeld des Raumes ein.
Gerade in seinen späten Arbeiten überlagerte Bonnard seine Bilder zudem oft mit zahlreichen Farbschichten, sodass die Oberfläche reich an Textur ist und geradezu plastisch wird. In Mimosenstrauß von circa 1945 erscheint die Materialität der Farbe als das eigentliche Thema des Stilllebens: Dick aufgetragene Gelb- und Orangetöne lassen die Blumen mit voller Intensität erstrahlen. Zugleich greifen die Farben auch auf das umliegende Interieur über, sodass Mimosen und Bildraum zu einer energetisch pulsierenden Oberfläche verschmelzen.
Treffend also, dass der amerikanische Kritiker Duncan Phillips Bonnard bereits 1949 als einen „Musik-Macher der Farbe“ bezeichnet hat, dessen technische Brillanz und herausragende Pinselführung ihn zu einem „Propheten“ der Moderne und einem „der bedeutendsten Maler des 20. Jahrhunderts“ machten.
Und so kam es dann auch: Gerade in den USA, wo Bonnard seit Mitte des Jahrhunderts zahlreiche Ausstellungen gewidmet wurden, ließen sich viele Avantgardegünstler von ihm inspirieren – vor allem aus dem Umfeld des Abstrakten Expressionismus. Bei genauerem Hinsehen scheinen etwa manche Gemälde Mark Rothkos wie aus einem Bonnard-Werk „geschnitten“.
Auch Matisse hat übrigens seinen Freund in dieser Hinsicht ganz richtig eingeschätzt. Ein Jahr nach Bonnards Tod prophezeite er: „Ja! Ich bezeuge, dass Pierre Bonnard ein großer Maler ist, für heute und bestimmt auch für die Zukunft.“
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