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Van Gogh wird Vater der Moderne

Die Sonderbundausstellung von 1912 war die erste europäische Großausstellung einer damals „vielumstrittenen Malerei“. Heute liest sich die Künstlerliste wie das Who is Who der Moderne. Ganz oben: Vincent van Gogh.

Anett Göthe — 29. November 2019

Wer den ersten Raum von MAKING VAN GOGH betritt, wird gleich von dem Gesicht der Ausstellung empfangen, jenem farbig flirrenden Selbstporträt van Goghs, das auch als Kampagnenmotiv die Plakatwände in Frankfurt ziert. Gleich daneben die prägnante L’Arlésienne (1888), die expressionistisch anmutenden Hafenarbeiter in Arles (1888) und van Goghs berühmte Segelboote am Strand von Les Saintes-Maries-de-la-Mer (1888). Die in diesem Raum gezeigten Werke eint weder die motivische noch die stilistische Umsetzung. Hier findet eine Wiedervereinigung statt: 1912 hingen sie alle auf der Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler vertreten – es war die Leistungsschau der Moderne.

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum / Norbert Miguletz

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum / Norbert Miguletz

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto: Städel Museum / Norbert Miguletz

Der Sonderbund Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler war ein Förderverein für zeitgenössische Kunst und wurde 1909 als ein Zusammenschluss von Künstlern und Künstlerinnen, Sammlern, Sammlerinnen und Museumsleuten ins Leben gerufen. Zu den Organisatoren zählten unter anderen Karl Ernst Osthaus, Gründer des Folkwang Museums in Hagen, der Maler August Macke sowie die Galeristen Alfred Flechtheim und Paul Cassirer, welche ebenso wichtige Weichensteller für van Goghs Erfolg in Deutschland waren. Der Fokus des Sonderbundes lag aber keineswegs nur auf „westdeutscher“ Kunst. Es ging stattdessen um internationale zeitgenössische Positionen. Die Kölner Ausstellung von 1912 war bereits die vierte Schau der Vereinigung. Sie wurde die erste große Überblicksausstellung moderner Malerei. Mittlerweile hatte sie sich zu einer Art Seismografen der Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt, indem sie neue künstlerische Tendenzen jener Zeit – der konservativen Kaiserzeit – mutig aufgriff. Die Herausforderung der Sehgewohnheiten war Programm: Systematisch wollte die Sonderbund-Ausstellung die „vielumstrittene Malerei unserer Tage“, die Moderne, vertreten. Ihre Bedeutung für die Künstler und den Kunstmarkt kann mit der heutigen documenta in Kassel verglichen werden.

Unbekannt, Sonderbund-Ausstellung, Köln, 1912, Blick in einen der Van-Gogh-Säle

Ein Künstler stach in der Sonderbund-Ausstellung von 1912 besonders hervor: Die ersten fünf der insgesamt 29 Säle waren Vincent van Gogh gewidmet – von 634 Werken waren 125 von ihm. Van Gogh war damit wesentlich präsenter als internationale Größen wie Paul Cézanne, Paul Gauguin, Pablo Picasso oder Henri Matisse. Seit 22 Jahren war er zu diesem Zeitpunkt – weitestgehend unbekannt – verstorben, sein Ruhm hatte sich jedoch rasch potenziert und die Preise für seine Werke waren im Kunsthandel kontinuierlich angestiegen. Die Sonderbund-Schau schließlich besiegelte sein Image als „Vater der Moderne“. 

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Wie groß sein Einfluss mittlerweile auch auf deutsche Künstlerinnen und Künstler war, zeigte sich in den folgenden Sälen, in den Arbeiten von Ernst-Ludwig Kirchner, Erich Heckel oder Paula Modersohn-Becker. Die Vorbildfunktion van Goghs auf die junge Künstlergeneration wurde in der Schau aber auch in den Werken von heute weniger bekannten Malern deutlich, wie in Heinrich Nauens Grabende Bauern und Wilhelm Morgners Lehmarbeiter. Auch nach der Ausstellung breitete sich das Van-Gogh-Fieber weiter aus, schließlich pilgerten Künstler aus ganz Deutschland nach Köln.

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum / Norbert Miguletz

Ausstellungsansicht MAKING VAN GOGH, Foto: Städel Museum / Norbert Miguletz

Die Sonderbundausstellung war – auch für die Werke van Goghs – insofern bahnbrechend, als dass sie die avantgardistische Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einen internationalen Dialog setzte. 1912 war nicht nur das Jahr, in dem die Titanic unterging, sondern auch die Vorbehalte gegenüber internationalen Künstlern in Deutschland. Noch ein Jahr zuvor hatten deutsche Künstler eine Protestschrift veröffentlicht, in der sie die zunehmende Internationalität des Kunstmarktes als „Überfremdung“ kritisierten und die vorrangige Förderung einer „nationalen Kunst“ forderten. Anlass für den Aufschrei war der Erwerb von van Goghs Mohnfeld (1889) für die Kunsthalle Bremen gewesen. Doch bereits im selben Jahr traten Vertreter der Kunstszene mit einer Gegenschrift für die internationale Ausrichtung des hiesigen Kunstmarktes ein. Die Sonderbundausstellung war nicht nur Durchbruch für die Kunst van Goghs, sondern auch eine Triumphschau der Moderne gegen nationalistische Tendenzen der Zeit. Zumindest für den Moment.


Anett Göthe ist Kunsthistorikerin, Kulturjournalistin und freie Mitarbeiterin für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zur Van-Gogh-Ausstellung.

MAKING VAN GOGH. Geschichte einer deutschen Liebe“ läuft bis 16. Februar 2020 im Städel. Zur Ausstellung gibt es ein vorbereitendes Digitorial® und eine Podcast-Serie, die sich um van Goghs legendäres „Bildnis des Dr. Gachet“ dreht.

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