Van Goghs berühmtes „Bildnis des Dr. Gachet“ gehörte einst dem Städel – bis die Nationalsozialisten es 1937 beschlagnahmten und zur „entarteten Kunst“ erklärten. Das Gemälde wurde zum politischen Spielball.
Als Anfang Dezember 1937 Vincent van Goghs berühmtes Bildnis des Dr. Gachet aus der Sammlung des Städel abgezogen wurde, war die Verzweiflung groß. Museumsassistent Oswald Goetz musste das Gemälde nach Berlin verschicken und erinnerte sich später in Briefen und Memoiren: Seit die Kiste mit dem Kunstwerk „wie ein Sarg“ verschlossen worden war, konnte er „die vorwurfsvollen blauen Augen des Doctors nicht mehr loswerden.“ In der Ausstellung MAKING VAN GOGH steht der leere Bilderrahmen, in dem das Porträt 1911 ans Städel gekommen war, für diesen einschlägigen Moment in der Geschichte des Museums. Und er führt dabei eine Gewissheit eindrücklich vor Augen: Gesellschaftliche und politische Begebenheiten machen auch vor der Kunst nicht halt.
Das Bildnis des Dr. Gachet zählte zu den rund 20.000 Werken, die im Zuge der zerstörerischen Kunstpolitik der Nationalsozialisten aus deutschen Museen beschlagnahmt wurden. Die sogenannte „Aktion Entartete Kunst“ in den Sommermonaten 1937 zielte vor allem auf die Kunst der Moderne, auf Werke der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts, der Expressionisten, Surrealisten, Dadaisten und jüdischer Künstler. Was in den 1910er und 20er-Jahren meist mühsam und mit innovativem Gespür gesammelt worden war fiel dem nationalsozialistischen „Bildersturm“ zum Opfer.
Auch im Städel Museum hatte die Reichskammer der Bildenden Künste hunderte Gemälde, Grafiken und einige wenige Skulpturen „sicherstellen“ lassen. Alfred Wolters, Direktor der Städtischen Galerie – der damaligen modernen Sammlung des Städelschen Kunstinstituts – beschrieb die Vorgänge entsetzt als „schwere Verstümmelung und merkbare Rangminderung“ der Bestände. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Städel erlebten, dass einige der beschlagnahmten Kunstwerke in der berüchtigten Propaganda-Schau „Entartete Kunst“ öffentlich verfemt wurden. Die Wanderausstellung brach ab dem 19. Juli 1937 in verschiedenen deutschen Städten Besucherrekorde: Schmäh-Sprüche und Karikaturen an den Ausstellungswänden diffamierten die Kunst als „krankhaft“ und „verwaist“ – leiteten das Publikum an, sie zu verlachen und zu verachten.
Die Kunst Vincent van Goghs war in der Ausstellung „Entartete Kunst“ nicht zu sehen. Auch das Bildnis des Dr. Gachet blieb am Städel von den ersten Wellen der „Säuberungsaktion“ verschont. Vorerst.
Warum kam es später, im Dezember 1937, dann doch noch zur Konfiszierung des Porträts? – diese Frage ist bis heute nicht vollständig geklärt. Der führende Nationalsozialist Hermann Göring persönlich sollte sich van Goghs Gemälde aneignen. In einem ehemaligen Berliner Kornspeicher, in dem die deutschlandweit abgezogenen Werke lagerten, konnte der Reichsminister zuschlagen. Göring wusste: Die Kunst van Goghs versprach hohe Gewinne auf dem internationalen Kunstmarkt. Im Mai 1938 begründete Göring schließlich offiziell der Stadt Frankfurt und dem Städel Museum seinen Plan, das Bildnis des Dr. Gachet gegen ausländische Devisen einzutauschen und unwiderruflich zu enteignen: Man dürfe „mit dem Verkauf des van Gogh nicht mehr länger zurückhalten.“ Beim Bildnis des Dr. Gachet handele es sich „um ausgesprochen entartete Kunst“. Bediente sich Göring lediglich dieser fatalen Kategorie, um seine finanzpolitischen oder gar persönlichen Interessen durchzusetzen?
Eine solche Erklärung greift wohl zu kurz, denn ideologisch lag längst in der Luft, was Göring zementierte: Van Gogh war schon früh ins Visier der nationalsozialistischen Chefideologen geraten. Seine ausdrucksstarke Malweise, die offenen, farbkräftigen Pinselstriche, aber auch der Ruf des „wahnsinnigen“ Einzelgängers waren den Theoretikern der NS-Führung suspekt. Für Alfred Rosenberg beispielsweise, der die moderne Literatur, Musik und Kunst des frühen 20. Jahrhunderts mit „geistiger Syphilis“ gleichsetze, verkörperte Vincent van Gogh eine bereits „krankhafte“ Generation. Auch „dieses Geschlecht (…) ergab sich dem Chaos“, polemisierte Rosenberg 1930 in seinem einflussreichen Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts: „Und Vincent malte Apfelbäume, Kohl und Straßensteine. Bis er verrückt wurde.“
Die späte Beschlagnahme des Bildnis des Dr. Gachet kam wohl auch für die Mitarbeiter des Städel Museums nicht ganz überraschend. Direktor Alfred Wolters war bereits im August 1937 auf einer offiziellen Tagung „zur einheitlichen Ausrichtung der Museen“ in Berlin über die zunehmend kritische Haltung der NS-Führung zu van Goghs Kunst informiert worden. Gemeinsam mit Künstlern wie Edward Munch, James Ensor und Paul Cézanne wurde der Niederländer zunächst zum „problematischen Ausländer“ herabgestuft. Doch die Botschaft verschärfte sich auf einer zweiten „Tagung deutscher Museumsleiter“ Ende November 1937: Die in Berlin versammelten Direktoren mussten erfahren, dass van Gogh – genau wie die alten Meister Rembrandt und Grünewald – letztgültig der „Entartung“ zuzurechnen sei.
Die nationalsozialistischen Ideologen begründeten dies mit einem bezeichnend biologistischen Umkehrschluss: Die eigentümliche Malweise van Goghs sah man als Ausdruck seiner vermeintlich psychisch „krankhaften“ Verfasstheit und genetischen „Abirrung“; die Kunst des Niederländers sei so „pathologisch“ wie dessen Biografie. Der Kunstkritiker Paul Westheim kommentierte damals die Inhalte der Tagung bissig aus dem Schweizer Exil: „Dass van Gogh […] kein wahrer Künstler sei, gehe schon daraus unmissverständlich hervor, dass er sich in einem Anfall von Geisteskrankheit ein Ohr abgeschnitten habe. Anfälle von Geisteskrankheit sind nationalsozialistisch nur tragbar, wenn sie bei deutschen Philosophen (Nietzsche), deutschen Dichtern (Hölderlin), deutschen Musikern (Schumann) auftreten; bei Malern selbstverständlich nicht, der nordische Maler malt nur mit unbeschnittenen Ohren.“
Im Tagungssaal in Berlin kam es angesichts der neu verkündeten Sichtweisen der NS-Führung zum Eklat: Eine aufgebrachte Gruppe der einflussreichen Gäste verließ geschlossen den Saal. So heftig war die Empörung einiger Museumsleiter, dass das zuständige Reichserziehungsministerium die Tagung abschließend als „geheim“ deklarierte. Dennoch – im Fall des Bildnis des Dr. Gachet machte die NS-Führung ernst. Am 2. Dezember 1937, genau fünf Tage nachdem Direktor Wolters aus Berlin nach Frankfurt zurückgekehrt war, erreichte ihn die offizielle Benachrichtigung: Der Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste „verfügte“ über fünf weitere Gemälde, darunter auch van Goghs Porträt seines Nervenarztes.
Aus dem rigiden Weltbild, das die nationalsozialistische Kulturpolitik vertrat, sollte die bewegte Malweise van Goghs – vielleicht auch die Lebensintensität des Künstlers – verbannt werden. Was bis heute weltweit an van Goghs Kunst und seiner Biografie fasziniert, entsprach letztlich nicht dem sterilen Schönheitsideal der nationalsozialistischen Dogmatiker.
Die bewegte Geschichte des Bildnis des Dr. Gachet sollte noch weitere Wendungen nehmen: 1990 wurde es in New York als das damals teuerste Gemälde der Welt versteigert und ist seitdem aus den Augen der Öffentlichkeit verschwunden. An welchem Ort auch immer der melancholische Dr. Gachet heute aus dem Gemälde schaut – seine „vorwurfsvollen blauen Augen“ lesen sich auch aus der Distanz wie ein stummer Kommentar der Ereignisse.
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